Kostas Charitos 06 - Die Kinderfrau
eine Fremdsprache: Englisch.« Und selbst das ist maßlos übertrieben.
»Schade, auf Deutsch hätten wir uns besser verständigen können.«
»Sie können Deutsch?«, frage ich und wundere mich schon darüber, dass die türkische Polizei so viel Wert auf berufliche Weiterbildung legt.
»Ich bin in Deutschland geboren, in Esslingen, in der Nähe von Stuttgart. Ich habe die türkische und die deutsche Staatsbürgerschaft. Zunächst war ich bei der deutschen Polizei, aber dann bin ich in die Türkei gekommen und habe eine Stelle in Istanbul angenommen.«
»Wieso sind Sie aus Deutschland weggegangen? Haben Sie hier eine bessere Arbeit gefunden?«
»Hier verdient man zwar weniger Geld, doch die Aufstiegsmöglichkeiten sind besser. Aber das war nicht der Grund für mein Weggehen.«
»Sondern?«
»Familiäre Gründe«, erwidert er vage und biegt nach rechts ein.
Wir lassen die vierspurige Küstenstraße hinter uns und tauchen in ein Gässchen ein, das keine halbe Fahrspur breit ist und selbst einem Motorrad Schwierigkeiten bereitet hätte.
»Sie sind ein geschickter Autofahrer«, sage ich bewundernd zu Murat, während er sich durch die engen Gässchen schlängelt.
Er lacht auf. »Das habe ich hier gelernt. Hätte ich damals in Deutschland durch so eine Gasse fahren müssen, wäre der Wagen in der Werkstatt gelandet.«
Mit einem Mal wird mir klar, worin der Unterschied zwischen Athen und Istanbul liegt. In Athen sind viele Sehenswürdigkeiten unsichtbar, hier sind die meisten sichtbar. Gut, wir haben die Akropolis, den Tempel des Olympischen Zeus, den Kerameikos und ein Stückchen außerhalb noch den Poseidontempel von Sounion. Alles andere ist verborgen, entweder tief in der Erde oder in den Kellergeschossen der Museen. In Istanbul hingegen ist alles dem öffentlichen Anblick preisgegeben, als hätten hier alle Leute zu allen Zeiten bei ihrer Abreise alles unverändert liegen- und stehenlassen und sich einfach aus dem Staub gemacht. Und zum Glück hat keiner je daran gedacht, Ordnung zu schaffen. Tritt man aus der Hagia Sophia hinaus, kommt man durch Wohngegenden voller schnell hochgezogener Billigbauten und armseliger Läden. Nicht weit entfernt steht das Chora-Kloster, und verlässt man das Kloster wieder, stößt man auf ganz in Schwarz gehüllte Frauen, die ihre Kinder an der Hand hinter sich herziehen. Hier herrscht ein ganz anderes Lebensgefühl, als wenn man mitten unter händchenhaltenden Pärchen die Pera-Straße hinunterspaziert. Die Blaue Moschee ist von enormen Hotels im Hollywood-Stil umrahmt, und wenn man den Topkapi-Palast betritt, fühlt man sich so klein wie Ali Pascha, der Herrscher von Ioannina, im Angesicht der Hohen Pforte. Dann steht man plötzlich an der Küste des Goldenen Horns und zwischen den halbverfallenen Häusern fällt der Blick auf den venezianischen Galata-Turm. Nimmt man schließlich die Fähre nach Prinkipos, um die alten Herrenhäuser zu bewundern, und kehrt dann nach Istanbul zurück, wird man in ein riesiges Einkaufszentrum geschleust, und kommt man dort wieder hinaus, findet man sich in großflächigen Siedlungen mit illegalen Hütten und kleinen Läden wieder. In Athen fördert man mit jedem Spatenstich etwas Antikes zutage. Hier läuft man Gefahr, halb Istanbul zum Einsturz zu bringen, sollte man den Spaten ansetzen.
Murat parkt den Streifenwagen vor drei Holzhäusern. Das erste ist das prächtigste, aber auch das einsturzgefährdetste. Das Erdgeschoss wurde mit Ziegelsteinen verstärkt, so dass das Holzhaus wie nachträglich aufgesetzt wirkt. Die anderen beiden sind kleiner und wurden renoviert, und nun wirken sie wie gleich angezogene Zwillinge.
Vor dem ersten Haus hat ein Polizist Stellung bezogen. Er schlägt vor Murat die Hacken zusammen, öffnet die Tür und folgt ihm ins Innere. Ich bilde das Schlusslicht, entsprechend meiner hierarchischen Position im Fall Maria Chambou.
Es sieht so aus, als bildeten die Ziegelsteine nur die äußere Hülle, denn das Innere des Hauses ist aus Holz. Murat bedeutet mir, dass wir in der ersten Etage mit den Ermittlungen ansetzen müssen. So steigen wir eine Holztreppe hoch zu einem geräumigen Wohnzimmer, das vollgepfropft ist mit Möbeln, die ihren Glanz längst eingebüßt haben, da sie mit derselben Sorgfalt konserviert werden wie das ganze Haus. Nur dass hier anstelle der äußerlichen Schutzhülle aus Ziegelsteinen ein löchriger Teppich über das Sofa und ein paar
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