Kostas Charitos 06 - Die Kinderfrau
Sohnemann satt - und nicht hungrig wie sie selbst während der Besatzungszeit - vom Tisch aufstand.
Als wir am Schluss nach der Rechnung verlangten, eröffnete uns die Kourtidou, dass sie bereits bezahlt habe, was zu einem lautstarken Protest unsererseits führte.
»So war das nicht vereinbart, wir haben Sie doch eingeladen«, rief Adriani aus. »Sie haben uns hintergangen, Frau Kourtidou.«
»Nichts da, ich war an der Reihe. Eigentlich hätte ich Sie ja zu uns nach Hause einladen wollen, aber Theodossis ist bei unserem Sohn in Frankfurt, und wenn er nicht da ist, fällt es mir ein wenig schwer, als alleinige Gastgeberin aufzutreten.«
Ich blicke aus dem Fenster des Streifenwagens auf den Dunstschleier, der über Istanbul liegt. Wir kommen an einer dreistöckigen Fischtaverne vorbei, und kurze Zeit später verlassen wir die Küstenstraße am Goldenen Horn, um nach links abzubiegen. Murats Beschreibung bestätigt sich bis ins letzte Detail. Wir tauchen in lauter enge Gässchen ein, die allesamt von schönen alten und dem Verfall anheimgegebenen Häusern gesäumt werden. Istanbul erinnert mich manchmal an ein nur unvollkommen renoviertes herrschaftliches Gebäude, dessen Fassade beeindruckt und dessen Innenleben zerbröckelt. Der Kollege am Steuer durchquert zwei Straßen, welche die Ausmaße eines Fußpfades haben, passiert dann eine dritte, durch die gerade mal ein Holzkarren passt, fährt dann an einer Moschee vorüber und bleibt ein Stück weiter stehen.
»Climen Sokak«, sagt er zu mir und deutet auf das Straßenschild.
Die Hausnummer fünf, wo Efterpi Lazaridou wohnt, liegt zwei Türen weiter. Es ist ein zweistöckiges, in einem intensiven Pistaziengrün gestrichenes Holzhaus mit Blumentöpfen an den Fenstern der oberen Etage. Die Lazaridou zeigt sich überrascht, mich zu sehen, ohne dass ihr die angeborene Höflichkeit der Istanbuler abhandenkommt.
»Schön, Sie zu sehen, Herr Kommissar.«
»Darf ich Ihre Zeit kurz in Anspruch nehmen?«
»Aber gerne.« Und sie fügt mit einer gewissen Bitterkeit hinzu: »In meinem Alter und hier, wo ich lebe, bedeutet jeder Besuch ein wenig Zerstreuung.«
Sie empfängt mich in einem mit Steinfliesen ausgelegten Flur, der eine Tür nach links und eine andere, niedrigere nach rechts aufweist. Sie öffnet die linke Tür und führt mich in ein altmodisch eingerichtetes Wohnzimmer, das sie von ihrer Großmutter geerbt haben muss. Unter dem Fenster steht ein Diwan mit einem dicken, gewebten Überwurf, ihm gegenüber zwei Sessel mit Holzlehne und handbestickter Sitzfläche. In der Mitte des Raums befinden sich ein runder Holztisch und rundherum vier schwarze Holzstühle mit geflochtenen Sitzen.
»Kann ich Ihnen einen kleinen Mokka anbieten?«
»Gerne.«
In Erwartung des Mokkas setze ich mich auf den Diwan und beobachte durch das Fenster, wie der Streifenwagen anfährt und nach rechts abbiegt. Die Straße hat die letzte Stufe des Verfalls erreicht. Das zweistöckige Gebäude gegenüber ist zwar größer als das Haus der Lazaridou, doch sollte jemand das obere Stockwerk betreten, steht zu befürchten, dass es sogleich in sich zusammenfällt, als hätte es ein Erdbeben der Stärke sieben auf der Richterskala erschüttert. Und dennoch scheint es bewohnt zu sein, denn auf dem Balkon ist Wäsche zum Trocknen aufgehängt. Unten an der Türschwelle putzt eine dicke Frau mit Kopftuch grüne Bohnen, während drei Kinder in matschigen Wasserlachen herumspritzen.
»So sah früher ganz Fener aus«, höre ich die Stimme der Lazaridou sagen, und ich wende mich um. »Wie das gegenüberliegende Haus der Familie Michailidis, von dem Sie allerdings nur mehr die traurigen Überreste sehen. Zum Teil sind wir selbst schuld, weil wir alles stehen und liegen gelassen haben und Hals über Kopf fortgezogen sind, zum Teil die Türken, die Fener turkisieren wollten und Hinz und Kunz hier angesiedelt haben. Und schauen Sie sich das Ergebnis an...«
Sie hat mir den Mokka auf einem kleinen silbernen Tablett gebracht, daneben ein Tellerchen mit in Sirup eingelegten Früchten und ein Glas Wasser. Da kommt mir in den Sinn, dass auch Adrianis Mutter, als ich mit meinen Eltern vorsprach und um ihre Hand anhielt, uns Mokka und in Sirup eingelegte Feigen serviert hat. Ich frage mich, wie die Süßigkeit der Lazaridou zu bewerten ist: als Teil einer lebendigen Tradition, die noch aufrechterhalten wird, oder als Teil eines muffigen Konservatismus, den
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