Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman
war bloß, und er lag auf dem Rücken, offenbar irgendwo im Freien. Ich stelle mir gern vor, dass das Foto an einem Flussufer unter einem Baum entstanden war, bei einem Picknick meiner Eltern. Aber ich weiß es wirklich nicht. Er lächelte in die Kamera, das Lächeln eines Liebhabers für das Foto der Liebsten. Einen Arm hatte er nach oben abgewinkelt und unter den Kopf gelegt. Er sah sehr, sehr gut aus - dunkle Augen und dichtes rabenschwarzes Haar. Sein Lächeln erkannte ich gleich wieder, denn es war mein Lächeln. Und in der linken Wange hatte er ein Grübchen, nur ein einziges, genau wie ich. daher gab es gar keinen Zweifel.
Ich behielt das Foto. Ich weiß, dass ich das eigentlich nicht hätte tun dürfen. Aber auf diese weise habe ich es meiner Mutter heimgezahlt. Sie hat nie danach gefragt. Wie auch? Schließlich hatte sie ja behauptet, sie habe nichts von ihm aufbewahrt.
Die Kellnerin klopfte mit dem Kaffeedosierer aus Metall kräftig auf die Theke. Der alte Mann regte sich. Ich schaute zu Marc hinüber, denn ich merkte, dass er mich beobachtete.
»Aber wir sind doch nicht tot, Marc, oder?«
Sein Grinsen wirkte auf mich wie der erste Blitz am Ende eines schwülen Tages, das erste Versprechen von baldigem Regen in spannungsgeladener Hitze. Ich hatte vergessen, wie sehr ich dieses grinsen liebte. Mir wurde bewusst, dass das hier alles viel zu verrückt war, zu absurd, als dass es sich lohnen würde, sich darüber aufzuregen. wir mussten einfach ruhe bewahren und es über uns hinwegbrausen lassen. Bestimmt wäre es bald vorbei.
»Wenn du von einem Brandungsrückstrom erfasst wirst, Charlie, dann darfst du auf keinen Fall dagegen ankämpfen. Bleib ruhig und schwimm quer drüber Weg, aber niemals dagegen an!«
Wir mussten einfach abwarten. Ich sah mich im Café um, und beim Anblick der imitierten Rokokotapete erinnerte ich mich plötzlich. »Hier sind wir schon mal gewesen!«
Verwirrt runzelte Marc die Stirn.
»Genau hier!«
Er folgte meinem Blick, war sich aber nicht sicher. »Peutêtre ... Ich weiß es nicht, Annie.«
»Ich sage dir doch, hier sind wir an dem Abend noch hingegangen, nachdem wir im Kitty O'Shea waren. Erinnerst du dich nicht?«
»Non.« Er wandte den Kopf der Kellnerin zu, die gerade mit seinem Kaffee erschien. Ihre vollen Brüste wogten. »Sie war damals jedenfalls nicht hier. An sie würde ich mich bestimmt erinnern. Ça c'est sûr!«
Dieses Grinsen! »Du warst schon immer ein Ekel, Marc. Aber im Ernst, ich glaube, wir haben sogar an diesem Tisch gesessen.«
»Ich weiß nur noch, dass der Kaffee ungenießbar war.« Er trank einen Schluck und würgte dann auf diese übertriebene französische Art, die ihm eigen war. »Et oui, er ist immer noch ungenießbar. Schmeckt wie Pihse.«
»Du meinst Pisse, Marc.«
»Ach, Scheise, Annie. Ja, Pihse, von mir aus.«
Ich dachte daran, dass dieser Mann, als wir uns kennenlernten, als er in der irischen Kneipe auf mich zugekommen war, in meiner Sprache kaum mehr als eine kurze Begrüßung mit starkem Akzent zustande gebracht hatte. Und jetzt saß er vor mir, wieder im selben Café, und fluchte wie ein Bierkutscher, allerdings immer noch unverkennbar mit französischem Akzent.
»Was meinen Akzent angeht, übertreibst du aber«, beschwerte er sich stets.
Das sehe ich anders. Charlie würde wieder sagen: »Er ist ein Verdrängungskünstler, Mummy.« Ich beobachtete Marcs Gesicht - er machte so etwas Komisches mit dem Mund, verzog ihn nach unten, etwas sehr Französisches, aber es war noch nicht so tief in seine Züge eingeprägt, noch nicht so eingemeißelt. Noch nie hatte ich die Ähnlichkeit mit Charlie so deutlich gesehen wie in diesem Moment. Und da fiel es mir wieder ein.
»Guck doch mal in dein Portemonnaie!«
Marc erwiderte meinen Blick, zog verwirrt eine Augenbraue hoch, griff aber in seine Hosentasche. Offenbar hatte er es vergessen.
»C'es fou, tu sais!« Kopfschüttelnd betrachtete er die zerfledderte braune Lederbörse, die er früher bei sich getragen hatte. »Wo ist dieses Ding denn eigentlich geblieben?«
»Keine Ahnung«, log ich. Dabei war es eines Tages, als er gerade nicht da war, zusammen mit seinen Stiefeln und der alten Jeansjacke in die Altkleidersammlung von der Heilsarmee gewandert. Doch das alte Portemonnaie hatte ich gar nicht gemeint. »Sieh mal rein, Marc!« Ich musste schnell das Thema wechseln. »Wie viel Geld hast du dabei?«
»Gar keins.« Er durchsuchte das Portemonnaie, plötzlich nervös geworden.
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