Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman
aber wie konnte ich bloß derart naiv sein?
Marc ist natürlich empört darüber, dass ich seine Situation mit Frédérique mit meinem Verhältnis zu Carlo vergleiche. »Unsere Beziehung war doch vorbei«, sagt er. »Wie konnte ich denn noch mit ihr zusammen sein, wenn ich beinahe jeden Abend zu dir gekommen bin?«
Dieses »beinahe« ist es, das mir keine Ruhe lässt.
15
C arlo wartete im Klassenraum auf mich. Mit dem Rücken zur Tür saß er da und schaute aus dem Fenster, als wäre ich nur eben hinausgegangen, um etwas zu holen - ein Wörterbuch vielleicht oder einen Whiteboard-Marker. Er summte. Ich war fünfzehn Jahre lang fort gewesen, und er summte!
Wortlos blieb ich in der Tür stehen. Ich nahm alles in mich auf, die Silhouette seiner Schultern, seine Hand auf dem Tisch, die Finger, die leise auf die Platte trommelten, zufrieden. Trotz meines Schweigens musste er meine Anwesenheit gespürt haben.
»Anna!«
Er drehte sich um und stand auf, um mich zu begrüßen; er freute sich so - wie Charlie mit drei Jahren, wenn ich ihn aus der Tagesstätte abholen wollte und er aus der Sandkiste sprang und über den Hof rannte. »Mummy!«
Bevor ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, kam Carlo mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. Ich hörte Schritte im Flur, die verharrten und sich dann schnell entfernten - die Schneekönigin vielleicht?
Im Laufe der Jahre war mein Bild von diesem Mann unscharf geworden. Ich konnte mich zwar noch an Einzelheiten erinnern, etwa an seine Gesichtszüge, sie waren jedoch zu Teilen eines Puzzles geworden, das ich auseinandergenommen und weggepackt hatte - sein schwarzes Haar, die silbrigen Stellen an den Schläfen, das Verspielte in seinem Blick, die kohlrabenschwarzen Augen ... sein Lächeln. Aber welche Wirkung er auf mich gehabt hatte, dieser vollständige, dreidimensionale Carlo aus meiner Vergangenheit, war mir nicht mehr präsent gewesen. Ich hatte seine makellose Schönheit vergessen, seine imposante Gestalt und die Kraft seiner Hände. Als er mich an den Armen fasste und zu sich heranzog, spürte ich, welche Faszination er nach wie vor auf mich ausübte. Nichts, nicht einmal das Alter, kann einen dagegen immun machen.
Ich bin keine Heilige.
Ich spürte, wie mein Blut in Wallung geriet und mein Körper sich versteifte, als Carlo sich an mich drängte, als er seine Hände auf meinen Rücken schob und dann weiter nach unten gleiten ließ. ich fühlte mich überrumpelt von seinem Drängen, von seiner fieberhaften Berührung, von seinen Hüften, die sich gegen meine pressten, und von den Empfindungen, die er in mir auslöste ... Rasch trat ich zurück, entwand mich seinem Griff und schob ihn fort, indem ich ungeschickt die Hände gegen seine Brust stemmte. Auf diese Intimität mit einem Mann, den ich nicht mehr kannte, mit einem anderen Mann als Marc, war ich nicht vorbereitet.
»Carlo!«
»Du hast mir gefehlt!« Er streckte die Hand aus und zupfte an einer Haarsträhne, so wie Marc es gestern erst getan hatte. Ich fragte mich, was er meinte. Wusste er denn, wie lange wir uns nicht gesehen hatten?
»Du hättest mitkommen sollen, Anna!« Er hatte mir den Arm um die Taille gelegt und zog mich zum Tisch hinüber. »Ich habe dir etwas mitgebracht.«
Wohin hätte ich mitkommen sollen? Und dann sah ich sein Geschenk und erinnerte mich.
Es lag auf dem Tisch, ein schmales Päckchen in Goldpapier. Carlo war für eine Woche nach Italien gefahren, in seine Villa in der Toskana. Sein Wunsch war gewesen, dass ich ihn begleitete, aber dieses Mal hatte ich mich geweigert. Ich hatte es satt, die Geliebte zu spielen.
»Nimm deine Frau mit, Carlo!«, hatte ich gesagt.
Deshalb war er ohne mich abgereist. Und ich wünschte, er hätte sich nicht so leicht abwimmeln lassen. Ich wünschte, ich wäre doch mitgefahren.
»Komm, Annie, lass ihn endlich sausen!«, hatte Beattie mich aufgefordert. Sie war es leid, denn ich hatte die ganze Woche und auch den Samstag noch trübsinnig herumgehangen. »Vergiss ihn! Komm mit ins Kitty .«
Das tat ich - und da lernte ich Marc kennen.
»Mach es auf, Anna!« Carlos Hand auf meinem Rücken schob mich nach vorn.
Aber ich brauchte das Päckchen nicht zu öffnen. Ich hatte es sofort wiedererkannt.
»Du hättest das nicht für mich kaufen dürfen, Carlo.« Das hatte ich damals gesagt, als ich ihm das Geschenk zurückgegeben hatte, ohne es auszupacken. »Ich kann es nicht annehmen.«
Aber Carlo hatte nur gelacht und mir das goldene Päckchen erneut in
Weitere Kostenlose Bücher