Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman
durchstehen?
»Wer?« Ich stellte mich blöd und folgte ihr, als sie sich den Weg durch die dicht gedrängten Fahrgäste bahnte.
Beattie wandte sich zu mir um und verdrehte die Augen. Die Türen öffneten sich auf die Gare Saint-Lazare hinaus, den großen Zentralbahnhof, und noch bevor wir ausgestiegen waren, drängte schon der nächste Schwall Pendler in den Zug. »Oh, merci beaucoup!«, rief Beattie, während wir uns durchquetschten und auf den Bahnsteig traten.
»Immer zuerst die Leute aussteigen lassen, Charlie.«
Das Warnsignal ertönte, und hinter uns schlugen sämtliche Zugtüren krachend zu, jetzt gab es kein Zurück mehr.
Wir hatten schon den Hauptausgang erreicht, die Reihe mächtiger Torbogen, die auf die Cour de Rome hinausführten, als Beattie mich am Ellbogen auf die Seite zog. Die Herde der Pendler strömte an uns vorbei, als wäre das alles normal und ich einfach nur eine von ihnen.
»Was ist denn mit dir los, Annie? Du benimmst dich so komisch.«
Ich zuckte die Achseln. Beattie hatte mich immer gut gekannt. Aber so gut nun auch wieder nicht. »Weiß nicht. Wahrscheinlich die Montagsmüdigkeit.« Aber das schien sie nicht zu überzeugen. »Ich könnte im Stehen einschlafen.«
»Ja, so siehst du auch aus!« Sie musterte mich mit gerunzelter Stirn, prüfend, offenbar wartete sie auf eine andere Erklärung, doch ich konnte ihr keine geben.
Wir gingen in unser Café am Eingang der Gare Saint-Lazare, wo wir vor der Arbeit immer einkehrten. Viele Pariser legten dort auf ihrem Weg zur Arbeit eine kurze Kaffeepause ein und begaben sich dann in ihre Büros, etwa in die Banque Nationale de Paris oder in die Société Générale, oder sie nahmen in den großen Kaufhäusern wie Galeries Lafayette oder Printemps am Boulevard Haussmann ihre Plätze hinter den Theken ein. Als wir in dem lauten, trubeligen Café standen, fiel mir plötzlich auf, dass wir wirklich mittendrin gewesen waren, in der Hektik »des Rattenlochs von Stadt«, wie Marc immer sagte. Der Barkeeper mit seiner ewigen Zigarette hinter dem Ohr zwinkerte uns zu und servierte uns unsere grands cafés crème und dazu Croissants aus dem Korb auf dem silbernen Tresen - ja, er flirtete sogar mit uns, genau wie früher, während die anderen Stammgäste schmunzelnd zuschauten.
»Wann der wohl endlich aufgibt?«, fragte Beattie unüberhörbar. Anscheinend niemals.
Als wir an der Apotheke an der Ecke vorbeirannten, blieb ich plötzlich stehen, weil mir etwas einfiel - hier hatte doch eine Waage gestanden, genau unter dem blinkenden grünen Neonkreuz. Pesez-vous et découvrez votre avenir. Wiegen Sie sich und lassen Sie sich die Zukunft vorhersagen. Ich erinnerte mich an den Tag, an dem die Waage zum ersten Mal hier an der Ecke gestanden hatte. Es war ein besonders kalter Morgen gewesen, und obwohl Beattie und ich schon spät dran waren - um acht mussten wir anfangen -, bestand sie darauf, dass wir die Waage ausprobierten. Sie wollte wissen, wer von uns beiden weniger wog. Also zogen wir, jung und verrückt, wie wir waren, mitten auf dem Platz Mäntel und Schuhe aus, und bald setzte Beattie ihr Siegergrinsen auf, denn sie wog dreihundert Gramm weniger als ich.
Ich hatte den winzigen Papierstreifen aufbewahrt, auch als die Zahlen und Buchstaben darauf schon zu einem verwaschenen Lila ausgeblichen waren. Was mich so faszinierte, war allerdings nicht mein Gewicht, sondern die Wahrsagung auf dem Zettelchen: Si vous marchez dans les pas de votre mère, attention ... Wenn Sie in die Fußstapfen ihrer Mutter treten, dann hüten Sie sich ... Das letzte Stück des Streifens hatte sich in der Maschine verklemmt, sodass der Schluss des Satzes ein Geheimnis blieb. »Das ist ein Zeichen«, hatte Beattie damals orakelt.
Doch jetzt war die Waage nicht mehr da. Merkwürdig, alles war genauso wie früher - bis auf dieses Gerät.
Kaum hatten wir den Fahrstuhl verlassen und Colangue betreten, da ging es auch schon los. Murielle war es, die mich ins Schleudern brachte. murielle, damals auch als Mademoiselle Schneekönigin bekannt, war eine große blonde Deutschschweizerin, eine erwachsen gewordene Heidi, die sich allerdings zu einem Biest entwickelt hatte. Als persönliche, ja, sehr persönliche Assistentin des Direktors hatte sie an der Schule das Sagen. Es ging das Gerücht, dass sie als Bürohilfe angefangen hatte. Aber weil sie sehr kompetent und tüchtig war und außerdem, wie schon gesagt, hochgewachsen und blond, hatte sie sich bald bis ganz nach oben
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