Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman
emporgearbeitet und war dort geblieben - im wahrsten Sinne des Wortes, denn angeblich war das die Lieblingsstellung unseres Direktors. Alle hüteten sich vor der Schneekönigin, sogar er selbst. Nein, Murielle in die Quere zu kommen zahlte sich nicht aus.
Der Chef war natürlich verheiratet, er war der typische Franzose mit dem Verhältnis nebenbei. Jeden Freitag tauchte seine Frau mittags zum Essen auf und redete und scherzte höflich mit der Schneekönigin, seiner Geliebten. Selbstverständlich wusste sie Bescheid. Verglichen mit der Schneekönigin war sie ein zierliches Püppchen, stets tadellos in ihrem Chanelkostüm; mit Chanelhandtasche, Bubikopf und Pudel bot sie ein perfektes Bild. Sie hatte alles, was sie wollte. Warum sollte sie da Ärger machen?
»Bonjour, Annie.« Aus der Miene der Schneekönigin strahlte mir Effizienz entgegen wie eh und je. Ihre grauen Augen waren so warm wie Stahl im Schnee, und mit ihrem Lächeln konnte sie Glas zerspringen lassen. »Dein Monsieur Vitali ist schon da. Ich habe ihn in salle acht gesetzt.«
Ach ja, mein Monsieur Vitali ... Ich wäre noch auf ihn zu sprechen gekommen.
»Interessant. Ca t'arrange en fait«, sagt Marc, »dass du einfach vergessen hast, von ihm zu erzählen. Sehr praktisch.«
Carlo Vitali hatte sich zu Einzelstunden angemeldet. Er wollte sein Englisch im Privatunterricht perfektionieren, am liebsten bei einer weiblichen Lehrkraft, hatte er der Schneekönigin erklärt. Das war eine durchaus vernünftige Bitte, wenn man bedachte, dass seine Firma die Rechnung bezahlen würde, dass er selbst der stellvertretende Direktor war und obendrein Frauen mochte. Ja, er mochte Frauen außerordentlich.
Auf diese Weise also hatte ich Carlo kennengelernt.
Ich hatte ihn schon ungefähr ein Jahr lang unterrichtet, als ich Marc begegnete. Allerdings kann ich, wenn ich ehrlich bin, nicht behaupten, dass Carlo im Englischen große Fortschritte machte.
»Mais sicherlich auf anderen Gebieten«, sagt Marc.
Carlos Ausstrahlung, sein unwiderstehlicher Charme, ist schwer zu beschreiben. Man musste sich unweigerlich in ihn verlieben. Er war Italiener, ursprünglich aus Mailand, ein schöner Mann, hochgewachsen und dunkel, mit lebhaften Gesichtszügen und einem Lächeln so breit wie ... keine Ahnung. Selbst ein Foto würde ihm nicht gerecht werden.
Er war vor ungefähr zwei Jahrzehnten nach Paris gekommen, mit etwa Mitte zwanzig, aber er sprach immer noch mit italienischem Akzent. Wenn Carlo französisch sprach, klang es wie ein Gedicht, bedächtig, rhythmisch und melodiös. Er nannte mich Anna, was sich natürlich vollkommen anders anhört als Annie. Anna, dieser zärtliche Klang in der Mitte, wenn Carlos Zunge die beiden n formten, meine Konsonanten, wenn er sie auskostete, sie anschwellen ließ, sehnsüchtig wie -
»Deine Klitoris?«
Nein, Marc. Carlo verlieh meinem Namen Sinnlichkeit, er ließ ihn anschwellen und reifen, wie ein Mädchen zur Frau reift, er ließ meine Knie schwach werden, meine. Es ist wichtig, Carlos Zauber in seinem ganzen Umfang zu begreifen, sonst kann man alles Weitere nicht nachvollziehen: Warum ich mich in ihn verliebt habe, warum jede Frau sich in ihn verliebt hätte. Warum ich mich unverzüglich auf den Weg machte, wenn er nur mit den Fingern schnippte, ob zu seinem Haus in Italien oder in irgendein winziges exotisches Restaurant auf der anderen Seite von Paris. Wohin auch immer! Schließlich war ich damals gerade erst vierundzwanzig, noch jung und sehr naiv. Daher habe ich eine Sache noch nicht erwähnt, obwohl sie, wie Marc meint, ganz wesentlich ist. Doch, darauf komme ich noch zu sprechen.
Aber Marc hat schließlich gut reden.
Erst als wir schon eine ganze Weile zusammen waren, erfuhr ich von ihr, von Carlos Ehefrau. Mir war nicht einmal im Traum eingefallen, dass er verheiratet sein könnte. Er hatte sie nie erwähnt, also hatte ich einfach vermutet, dass er Single sei. Dabei hätte man meinen sollen, dass es nach einer weile bei mir klick machen würde, denn er konnte sich nur ganz selten an Wochenenden mit mir treffen, wir fuhren nie zu ihm nach Hause, und er suchte immer ganz abgelegene Restaurants und Hotels für uns aus, solche, die nicht im Michelin standen - und wo er sicher sein konnte, dass er ihr nicht begegnete. Wenn ich mir das jetzt überlege - dass er verheiratet war - und wenn ich dann an Marc und seine Frédérique denke, frage ich mich: Auf welchem Planeten habe ich damals eigentlich gelebt? Ich war jung, das stimmt,
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