Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman
Mauer entlang, die die Straße ins Dorf und weiter bis zu Marcs Elternhaus säumte. »Möchtest du meine Urgroßeltern kennenlernen, Annie?« Dort hatte er seinen Vater beerdigt, genauso wie sein Vater seinen Großvater beerdigt hatte. Die düstere Geschichte wiederholte sich - die verbissenen Gesichter seiner Vorfahren auf den Schwarzweißfotos verfolgten uns bis in die Gegenwart, bis in die Zukunft.
»Er ist böse auf mich, Beattie.«
»Lass ihm Zeit zu trauern«, riet sie mir am Telefon.
»Er gibt mir die Schuld.«
»Nein, Annie, das ist es nicht - du verstehst das nicht.«
Wieder diese Worte - die Marc im Zusammenhang mit seinem Vater benutzt hatte. Und nun erinnerte ich mich daran, dass ich sie auch ihm gegenüber gebraucht hatte - im Zusammenhang mit meiner Mutter.
Ich beschloss also, die Welle über mir zusammenschlagen zu lassen, über meinem gewaltigen Bauch, der uns eine glückliche Zukunft versprach. Nach dem Tod kommt die Geburt, sagte ich mir, das ist wie bei den Knöpfen für die verschiedenen Wartemarken im Standesamt. Wenn Marc so weit ist, wird er zu mir zurückkommen. Beattie hatte recht. Im Moment braucht er einfach Zeit für seine Trauer.
Und dann wurde Charlie geboren.
Nachdem er sich strampelnd und schreiend den Weg in die Welt gebahnt hatte, schlief er bis zu seinem dritten Geburtstag fast gar nicht. Mir blieb kaum Zeit zum Zähneputzen, geschweige denn, um über die Bedeutung von Leben und Tod nachzusinnen.
24
I n der Anfangszeit, an den faulen Sonntagen, wenn wir zu seinen Eltern hinausfuhren, hatte ich Marc um seine Kindheit beneidet - um diese beiden Menschen, die ihn geliebt und sein Zimmer nicht verändert hatten, nachdem er als junger Mann zu Hause ausgezogen war.
Aber wenn wir nach dem Tod seines Vaters mit Charlie zurückkehrten, erst, als er noch ein Baby, und später dann, als er ein kleiner Junge war, machte Marcs Zuhause mit seinem alten Kinderzimmer mich nervös. Es wirkte auf mich wie ein Schrein, ein Heiligtum, in dem seine Kindheit bewahrt und seine Vorfahren auf den düsteren Schwarzweißfotos verehrt wurden. Rosa hielt sein Zimmer weiter für ihn bereit, obwohl er längst verheiratet war und selbst einen Sohn hatte. Doch es war nicht nur sein Kinderzimmer, nein, das ganze Haus war zu einer Gedenkstätte für Maurice und seine Vorfahren geworden: Schubladen und Schränke waren mit Dokumenten, Aufzeichnungen und kaputten Sachen vollgestopft, mit bergen von Dingen, die keinem Zweck mehr dienten. Die Geschichte, die mich früher fasziniert hatte, dieses Haus, in dem Marcs Vater aufgewachsen war und der Vater seines Vaters und dessen Vater wiederum vor ihm, waren einengend und seltsam bedrückend geworden. Wie eine Landkarte mit vergilbten rändern, auf der auch Charlies Weg bereits eingezeichnet war.
Die Gegenstände, die ich einst in die Hand genommen und als Kostbarkeiten betrachtet hatte - abgegriffene Pfeifen, silberne Löffel und Porzellanteller -, waren jetzt nichts weiter als verstaubte, angestoßene Relikte aus einer anderen Zeit, aus dem Leben fremder Menschen.
Während ich mit rosa am Küchentisch saß, lauschte ich immer wieder ihren Geschichten, bis ich sie einfach nicht mehr hören konnte. Lange nachdem Maurice gestorben war, war das düstere, harte Leben seiner Vorfahren für sie immer noch ein Klotz am Bein. Aber ich wollte mir diese Fessel nicht anlegen lassen, und auf keinen Fall sollte sie später einmal Charlie behindern.
Ich war in einem anderen Land aufgewachsen, in einer anderen Welt, bei einer Mutter, die nichts aufbewahrt hatte - gar nichts, nur ein Foto von meinem Vater, das nicht für meine Augen bestimmt gewesen war. Meine Mutter hatte die Vergangenheit geleugnet und sich ihre eigene Wahrheit geschaffen: Mein Vater war ein guter Mann gewesen.
Aber er war aus meinem Leben verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen - bis auf ein gestohlenes Foto.
25
E rst musst du dir was wünschen.«
Mein »du« hallte nach wie die Rufe der Eulen im Wald vor unserem Schlafzimmerfenster in Lherm, es wurde von den massiven Marmorplatten unter unseren Füßen zurückgeworfen und schwebte schwerelos hinauf in die Kuppel über unseren Köpfen.
»Nicht wünschen, Annie«, zischte Beattie, »beten! Du musst ein Gebet sprechen.«
Es war nicht das erste mal, dass sie mich hierhin mitgenommen hatte, in die Kirche La Madeleine, die wie ein griechischer Tempel am ende der Rue Royale aufragt und mitten in Paris ganz seltsam wirkt. Die korinthischen
Weitere Kostenlose Bücher