Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman
dabei sei das Leben da draußen so hart. Ich solle besser schnell aufwachen, ansonsten stünden mir große Enttäuschungen bevor. Als Grandma dann starb, sagte meine Mutter nichts weiter zu mir als: »Jetzt kommst du vielleicht wieder auf den Boden herunter.« Doch das tat ich nicht.
Stattdessen kaufte ich mir ein Flugticket nach Paris, nur den Hinflug. Um »ein paar Eier aufzuschlagen« - ohne Reue, ohne Blick zurück.
35
I ch habe es gefunden. Es steht in einer Nebenstraße, die parallel zur Seine verläuft, hinter der Rue de Rivoli - das Hotel, in dem ich damals übernachtet habe, nach meiner Ankunft in Paris. Ich war von Grandmas Trauerfeier aus direkt zum Flughafen weitergefahren und dort geblieben. ich war dreiundzwanzig. Das war, bevor ich Marc kennenlernte, bevor ich Beattie kennenlernte.
Jetzt stehe ich wieder vor dem Eingang dieses komischen kleinen Hotels, das keine Sterne hat. ich hatte auch kein eigenes Bad, erinnere ich mich, bloß eine Toilette und ein Waschbecken hinter einem zerlöcherten Raumteiler, der japanisch aussehen sollte.
Die alte Frau an der Rezeption erinnert sich an mich. ich bin überrascht, denn ich kann mich kaum an sie erinnern. Bloß von ihrem Gesicht habe ich noch ein verschwommenes Bild: Die Augen waren zu stark geschminkt und mit dickem schwarzem Kajal umrandet, die fein nachgezogenen Augenbrauen bildeten perfekte Bogen, und das Haar war blond gefärbt.
»Mademoiselle Muucinntiire, ma belle petite Australienne!«
Sie faltet die Hände und kommt lächelnd hinter dem Tresen hervor, um mich zu begrüßen, um meine Hand in ihre beiden Hände zu nehmen. Sie sind klein wie die eines Kindes. Sie ähnelt einer Puppe. ich lächle, so überwältigt bin ich von ihrer Herzlichkeit, so gerührt, dass sie sich nach all den Jahren noch an mich erinnert. dann jedoch wird mir klar: natürlich, für sie sind ja nur ein paar Jahre vergangen, seit ich zum letzten Mal hier war. Von jetzt an wird es noch viel mehr Überraschungen geben, da bin ich sicher. Hier fange ich an, die Vergangenheit zu verändern. Von jetzt an wird meine Zukunft einen anderen Verlauf nehmen.
Die alte Dame besteht darauf, dass ich wieder dasselbe Zimmer nehme, chambre 402, obwohl ich dieses mal lieber ein anderes gehabt hätte, wenigstens mit dusche. Denn trotz meiner äußeren Erscheinung bin ich nicht mehr die junge Frau von früher, die sich so leicht von den kleinen Verschrobenheiten des Pariser Lebens bezaubern ließ. Doch ich möchte Madame nicht vor den Kopf stoßen, daher nehme ich mit einem Lächeln den riesigen Schlüssel entgegen, den sie mir in die Hand drückt, nicke und bedanke mich überschwänglich.
»Merci beaucoup, Madame«, wiederhole ich mehrmals. In dieser Hinsicht habe ich mich wohl nicht verändert.
Mein Zimmer ist im vierten Stock, es geht eine schmale Wendeltreppe hinauf, blank gebohnertes Holz, das unter meinen Schritten knarrt, und als ich oben ankomme, bin ich außer Atem. Meine Tasche ist schwer. ich habe sie in die Metro und durch die Straßen von Paris geschleppt, auf der Suche nach diesem Hotel. Es war ein anstrengender Tag - eine anstrengende Woche. Ich habe Marc verlassen. Er hat keine Ahnung, wo ich mich aufhalte. Ich habe kein Telefon dabei. Handys sind noch nicht in Mode.
Aber wie gesagt, es ist aus.
Ich öffne die Tür und betätige den Lichtschalter aus Messing links an der Wand. Das Zimmer ist noch genauso wie früher. Das durchgelegene Dreiviertelbett, das die Franzosen als Doppelbett betrachten, die verschlissene gelb-weiße Tagesdecke, die Blümchentapete in Rosa und Blau, die sich an den Rändern von der Wand löst, der abgetretene dunkelblaue Teppich und das Fenster mit Blick auf die Straße.
Ich seufze. Immerhin ist es vertraut.
Ich lasse meine Tasche auf den Boden plumpsen und falle aufs Bett. Ja, es ist sehr durchgelegen. Es ist spät, etwa sieben Uhr abends. ich sollte mir Wasser ins Gesicht spritzen, meine geschwollene, brennende Haut beruhigen und etwas essen gehen, denn ich habe weder gefrühstückt noch zu Mittag gegessen. Aber ich bin zu müde. ich habe ein flaues Gefühl im Magen, offenbar vom Stress. Erst einmal werde ich versuchen ein bisschen zu schlafen oder doch wenigstens die Augen zuzumachen.
»Wie man sich bettet, so liegt man«, würde meine Mutter sagen.
Ich kann nicht einschlafen, denn ich muss immer an die beiden denken. Mir fällt alles Mögliche ein, was Beattie gesagt hat, was wir gemeinsam unternommen haben, und ich versuche, einen Grund
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