Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman
mir klar, dass Beattie ihn verstand, natürlich. Sie begriff, was ich nicht nachvollziehen konnte. Ich hatte ja keine Familie. So hatte ich es ihm selbst erzählt.
Beattie verpasste den nächsten Zug, den übernächsten und auch den danach ...
»Mit mir wolltest du nicht reden, Marc.« Ich bin ruhig. Es ist schon so lange her. Aber trotzdem muss ich es wissen. »Wo seid ihr hingegangen?«
»Je suis désolé, Annie! Es tut mir so leid.«
Aber meine Hände fliegen wieder hoch, sie zittern, als ich sie mir vors Gesicht schlage. »Verschone mich damit, verschone mich, bitte! Sag mir einfach, wo du mit ihr hingegangen bist.«
Ich weine, die Tränen strömen mir über die Wangen, während ich mich vor und zurück wiege. Denn jetzt erinnere ich mich daran, wie Marc mich das erste Mal nach Ozouer mitgenommen hatte und ich ihn fragte: »Und wo findet das Nachtleben statt?«
»Tu verras!«, hatte er gesagt. Du wirst schon sehen. Hat Beattie das auch erlebt? Hat sie mit ihm im Gras gelegen? Haben sie anschließend gemeinsam in den Himmel hinaufgeblickt? Damals, in der Welt, die nicht mehr existiert ...
»Non, Annie«, sagt er. »Dahin habe ich sie nicht mitgenommen.«
Wieder hat er meine Gedanken gelesen, dieser Mann, der mein Herz geraubt und eine große, klaffende Wunde in meine Brust gerissen hat. Aber ich kann das jetzt nicht auf sich beruhen lassen - ich muss es wissen, selbst wenn er damit das Messer in der Wunde umdreht.
»Wohin hast du sie denn dann mitgenommen?« Ich schaukle immer noch, mit fest verschränkten Armen.
»Das spielt keine Rolle -«
Aber der Schmerz ist unerträglich. »Sag es mir!«, schreie ich.
Marcs Stimme ist ein Flüstern, aber ich höre ihn trotzdem - seine Worte hallen in meinen Ohren wider wie die Glocken von Ozouer. Sie läuten und läuten, dröhnend verkünden sie die Sünde der Ehebrecher: »In ein Hotel, Annie.«
Endlich hat er es gestanden. Aber ich verzeihe ihm nicht. Ich werde ihm niemals verzeihen. Er hat mich betrogen. Er hat Charlie betrogen. Sie haben uns beide betrogen.
Als Mädchen habe ich manchmal meine Mutter betrachtet und mich gefragt, wie sie wohl gewesen sein mochte, bevor mein Vater starb.
Wenn meine Mutter gerade nicht in meine Richtung schaute, kniff ich die Augen zusammen und hielt mir die Fäuste wie ein Fernglas davor. Dann konnte ich es sehen. Ich sah, wie schön sie war, wie schön sie gewesen sein musste. Wie eine dunkelhaarige Marilyn Monroe. Der Dreh- und Angelpunkt von Marilyns Schönheit, ihre raison d'être, war ihr Flachsblond, das wusste ich - aber meine Mutter ähnelte ihr trotzdem. Meine Mutter war ihre Norma-Jean-Seite, das junge Mädchen auf den Fotos, das kein Make-up trug, keine harten schwarzen Linien um die Augen und keinen knallroten Lippenstift. Meine Mutter war Norma Jean, die barfuß in einer weißen Bluse am Strand entlangspazierte, Norma Jean, die nach ihrer Fehlgeburt mit diesem traurigen, verletzlichen, sanften Blick aus dem Krankenhaus kam.
Also sagte ich mir, dass meine Mutter hinter ihrer Wut, hinter der harten Fassade, der kantigen Filmstar-Maske, einer ungeschminkten Marilyn Monroe glich - mit ihren großen braunen Augen, den dunklen Locken, die ihr Gesicht einrahmten, und den schmalen Schultern in dem ärmellosen Baumwollkleid. Dieses schlichte weiße Kleid mit der Passe, welche die Rundung ihrer Brüste betonte, hatte ich am liebsten gemocht.
Als Grandma mir die Wahrheit über meinen Vater erzählte, fragte ich mich daher immer wieder, wie er es fertiggebracht hatte, Knie an Knie mit einer anderen Frau im Café zu sitzen. War ihm nicht aufgefallen, wie schön Mummy war? Wusste er nicht, was er für ein Glückspilz war, weil er sie bekommen hatte? Hatte er nie darüber nachgedacht, dass es sie vernichten würde?
33
E s ist aus«, sage ich schlicht zu Marc.
Sie klingen so seltsam, diese Worte, genau die Worte, um die wir vor gerade erst einer Woche in Toulouse herumgeredet haben, die wir nicht auszusprechen wagten. Dieses ganze verrückte, verwickelte Chaos war nötig, um sie endlich zu sagen.
»Können wir nicht noch mal neu anfangen, Annie?«
Marcs Stimme ist heiser. Wir sind beide müde und ausgelaugt. Es ist spät. Wir sitzen vornübergebeugt an seinem Küchentisch. Der Kaffeerest in unseren Tassen ist längst kalt und trüb geworden. Es ist schon Nachmittag, doch wir haben uns nicht vom Fleck gerührt. Die Sonne ist vom Küchenfenster fortgewandert - jetzt fällt nur noch ein winziger Strahl hinter uns in
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