Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman
Rücken spüren, wenn er mich fest umschlingt.
Rette mich!, denke ich.
»Das ist dein Problem«, hat meine Mutter oft gesagt. »Du wartest immer noch darauf, dass ein Ritter in schimmernder Rüstung angeritten kommt.« Stimmt, denke ich. Ich erinnere mich daran, wie ich mit Grandma im Randwick Ritz saß und Minzbonbons lutschte, während Schneewittchen mit ihrer brüchigen, hohen Stimme sang: »Eines Tages wird mein Prinz kommen.« ich war zum allerersten mal im Kino. Vermutlich war ich nicht älter als vier Jahre. Aber dieses Lied werde ich nie vergessen.
Grandma sagte immer: »Einen Ritter findest du an jeder Ecke. Du musst bloß lernen, ihn zu erkennen.« Früher hatte ich geglaubt, Carlo wäre einer - er hatte so eine Art vorbeizureiten, wenn ihm gerade danach war, und mich zu entführen, irgendwohin, wo es interessant war, Weg von dem einerlei des Alltags, ohne Bedingungen zu stellen - jedenfalls glaubte ich das damals.
Die Gedanken an Charlie quälen mich, er ruft mich, ich soll kommen und ihn holen. Aber ich kann nicht.
Ich weiß noch, wie ich ihn einmal an einem heißen Sommerabend nach dem Abendessen mit nach Bondi an den Strand genommen habe. Marc arbeitete noch. Charlie war damals acht. Wir alberten unten am Wasser herum und spielten Fangen, am Südende, ein Stück entfernt vom bewachten Strand mit seinen Menschenmassen. Charlie hatte mich abgeschlagen, und ich war mit Fangen an der Reihe. Er war in dem Alter schon ziemlich flink, also musste ich ganz schön rennen. Ich hatte ihn fast eingeholt, als er einen Haken schlug und ins Wasser lief. Ich blieb stehen, beugte mich vor, um Atem zu schöpfen, und hielt mir die Seite, um mein Seitenstechen zu lindern.
Ich war gar nicht auf die Idee gekommen, dass Charlie weit reingehen könnte. Ich dachte, er wolle nur durch das flache Wasser rennen. Aber als ich mich wieder aufrichtete und nach ihm Ausschau hielt, stand er bereits bis zur Taille in den Fluten.
»Charlie!« Ich hob die Hand. »Geh nicht weiter - kehr um!«
Er muss gedacht haben, ich wolle ihn austricksen, wolle ihn zu mir locken, um ihn dann abzuschlagen, denn er lachte bloß, drehte sich um und watete weiter. Je mehr ich mich ihm näherte, desto weiter lief er hinein.
»Charlie!« Ich hatte angefangen zu schwimmen. »Komm zurück! Da hinten ist die Strömung so stark!« Aber es war zu spät. das Wasser ging ihm schon über den Kopf.
Mit seinen acht Jahren schwamm Charlie schon recht ordentlich. Er hatte einen kräftigen, guten Stil. Nur an seinem Beinschlag musste er noch arbeiten. Aber mit acht ist man eingebildet. Man glaubt alles zu können, bis man den Boden unter den Füßen verliert.
Und er fand keinen Grund mehr.
Ich glaube, so richtig klar wurde ihm das erst, als die erste Welle über ihm zusammenschlug. ich erkannte, dass er ängstlich wurde. Als er nach der zweiten Welle wieder auftauchte, stand ihm die Angst deutlich ins Gesicht geschrieben. Der Seegang war ziemlich stark. Eine Welle nach der anderen rollte heran, richtige Brecher. Und die Strömung trieb ihn schnell aufs Meer hinaus.
»Charlie!«, schrie ich vergeblich, wandte den Blick nicht von seinem Gesicht und schwamm hinter ihm her.
Ich halte mich für eine gute Schwimmerin, schließlich bin ich im Osten von Sydney aufgewachsen. Als Teenager bin ich am Tamarama Beach mit meinen Freundinnen auf das offene Meer hinausgeschwommen, ohne mich vor irgendetwas zu fürchten, außer dass mein Bikinioberteil sich hochschieben könnte. Schon ganz früh hatte Mummy mich zum Sportschwimmen gedrängt. Sie bestand darauf, dass ein wenig Wettbewerb mir guttun würde. »das stärkt die Willenskraft«, sagte sie. Tat es aber nicht. ich kriegte bloß Schiss.
An jenem Tag jedoch kam es mir vor, als würde ich in Zeitlupe schwimmen, als zöge das Wasser mich in die eine Richtung und Charlie in die andere. Ich kam einfach nicht schnell genug hinter ihm her. Und wir befanden uns ein großes Stück abseits des bewachten Badestrandes. Keine Menschenseele war in der Nähe. Die Rettungsschwimmer hielten sich alle am anderen Ende des Strandes auf.
Ich bemerkte ihn nicht gleich: Ein Mann schwamm neben mir her, dann überholte er mich. Er schwamm mit langen, stetigen Zügen, rhythmisch und gleichmäßig, als habe er es gar nicht eilig. Doch plötzlich hatte er Charlie erreicht, und Charlie kletterte auf seinen Rücken. Sie ritten auf einer Welle und schwammen an mir vorbei ans Ufer.
Als ich mit der nächsten Welle den Strand erreichte, hatte der
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