Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman
verliebt, der dem Mann auf dem Foto so ähnlich sah - dem einzigen Foto, das ich von meinem Vater besitze.
»Sag mir, Anna, wie kann ich dir helfen? Wie kann ich das wiedergutmachen?«
Lächelnd richte ich mich auf. Inzwischen bin ich älter. Allmählich werde ich klug, endlich. »Einfach eine Stelle, Carlo.« ich finde, das ist er mir schuldig. »Und keine Geschenke mehr.«
Er nickt. »Nein, keine Geschenke mehr.«
Dieses Mal haben wir eine Abmachung - keine Einladungen zum Essen mehr, keine Bedingungen.
Als ich ins Hotel zurückkomme, liegt dort eine Nachricht für mich. Madame überreicht mir einen rosa Zettel. Carlo hat offenbar keine Zeit verloren.
Die Nachricht ist von Beattie.
Sie hat es schon dreimal probiert. Ich muss lächeln. Es ist erst eine Stunde her, dass ich sein Büro verlassen habe. Ihre Botschaft ist einfach.
Ruf mich an!
Mach ich aber nicht.
Gerade als ich zum Frühstück die Treppe hinuntersteige, klingelt das Telefon.
»Oui, un moment s'il vous plaît«, höre ich Madame sagen.
Mir wird klar, dass es für mich ist, denn nun schweigt sie; vielleicht horcht sie auf meine Schritte. Das muss Beattie sein. Ich will nicht mit ihr sprechen. Auf der drittletzten Stufe zögere ich, im Begriff, umzukehren und die Treppe wieder hochzuschleichen. Aber es ist zu spät.
»Mademoiselle Muucinntiire!«
Madame nickt mir zu, als ich den Kopf um die Ecke strecke. Mit ihrer Zigarette fuchtelnd, deutet sie auf die Telefonzelle, während ihr Pudel die Asche anbellt, die auf den Tresen fällt. Der Geschäftsmann beobachtet mich aus seiner Ecke im Frühstückszimmer, wobei er ungeduldig auf den Tisch klopft. Er will sein Croissant. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als den Anruf entgegenzunehmen.
»Mademoiselle MacIntyre?«
Ich erkenne die Stimme sofort. Das ist nicht Beattie. Erleichtert seufze ich auf. Es ist Carlos Assistentin.
Ich habe mir eine Stelle besorgt. Morgen fange ich als Unternehmenssprecherin an. Wie Grandma immer gesagt hat: »Entscheidend ist nicht, was du weißt, sondern wen du kennst.«
38
I ch stehe mitten in einer Ausstellungshalle des Centre Pompidou, diesem imposanten gläsernen Kulturzentrum von Paris, das in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts errichtet wurde. Es ähnelt einem riesigen Metallbaukasten, einem Kinderspielzeug aus knallbunten Einzelteilen: rote, blaue und grüne Rohre, rotierende Räder und große Schlote, die wie Dalís schwankende Röhrenaugen aus dem Boden wachsen. Schamlos stellt es der Welt sein nacktes Gerippe zur Schau, eine Verherrlichung der Architektur, die damals aktuell war.
Im Rahmen der internationalen Handelsmesse, die jedes Jahr stattfindet, spreche ich hier als Vertreterin von Moratel lächelnd mit japanischen Geschäftsleuten. Als jüngstem Neuling im Unternehmen hat man mir diese Aufgabe zugeteilt - reden und lächeln, während sie mich in die Ecke des Messestandes drängen. Ich habe meinen Text auswendig gelernt. Aber darüber hinaus habe ich eigentlich keine Ahnung, wovon ich spreche.
Ich kann das, sage ich mir. Ich kann das im Schlaf, ebenso wie ich unterrichten kann. Was mir schwerfällt, ist das Lächeln. Ich überlege, wie ich meinen Zuhörern ein Lachen entlocken könnte. Vielleicht einen Kopfstand machen? Aber, wie Charlie sagen würde: »Du bist ein Scherzkeks, Mama.« Als er noch klein war, hellte sein Gesicht sich immer auf, wenn ich den Clown spielte. Seine blauen Augen wurden dann groß vor Freude, so wie Carlos, wenn er sagte: »Wirklich, Anna?« Aber je näher Charlie der Pubertät kam, desto mehr verwandelte seine Freude sich in reine Verlegenheit, und ich war bloß noch ein Witzbold für ihn.
Die Ansagen aus der Lautsprecheranlage hallen durch die Ausstellungsräume. Es sind aufgezeichnete Stimmen, begleitet von hypnotisierenden Jingles. Sie versprechen immer wieder die Geburt wunderbarer neuer Errungenschaften im Telekommunikationswesen, die allerneuesten technischen Wunder, die das Geschäftsleben revolutionieren und uns mit einem einzigen Satz ins einundzwanzigste Jahrhundert katapultieren werden. Ich lächle. Handys gibt es noch gar nicht richtig - es sind noch diese großen, unhandlichen Ziegelsteine, die wie Walkie-Talkies für Kinder aussehen. Die eleganten winzigen Apparate mit den tausendfachen Funktionen sind noch nicht in Sicht. Schließlich befinden wir uns erst im Jahr 1991.
Der Stand gegenüber trägt den Firmennamen Google. Diese Firmen werden es alle weit bringen, denke ich. Mit
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