Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman
vorbeisehen.
»Ich muss zurück ...«
»Après alors ... Heute Abend, nach der Arbeit.«
Ich schüttle den Kopf. Wenn ich jetzt anfange zu weinen, bin ich geliefert.
»Sag nicht Nein, Annie, sag auch nicht Ja! Bloß -«
Etwas auf meiner Brust ist Marc ins Auge gefallen. Ich schaue hinunter. Den hatte ich ganz vergessen - den Ausweis, der an meiner Kostümjacke festgesteckt ist. »Annie MacIntyre«, liest Marc vor. »Unternehmenssprecherin, Moratel. Moratel?« An dem Flackern in seinen Augen sehe ich, dass er sich erinnert, dass er im Geiste zwei und zwei zusammenzählt. »Ist das nicht Vitalis Firma?«
»Doch, ich -«
»Ach so! Je vois.« Ich verstehe. Marc schneidet mir das Wort ab, er zuckt zusammen, als hätte ihn etwas gestochen. Über seine Züge gleitet ein Schatten wie eine Maske.
Nein, gar nichts verstehst du!, denke ich, denn an seinem Blick kann ich ablesen, was in ihm vorgeht, was er denkt. Und seine Dummheit macht mich sprachlos. Er sollte mich doch eigentlich besser kennen!
»Marc?«
Aber es ist schon zu spät. Er hat sich umgedreht und kehrt an seinen Stand zurück. Mit offenem Mund schaue ich ihm nach.
39
E s ist Sonntagmorgen, zwei Minuten vor elf. Auf den Tag genau zwei Monate ist es her, dass ich Marc verlassen habe. Aber wer zählt schon die Tage? Doch ich rechne nach, während ich mitten auf der Gare de l'Est stehe und zu der riesigen schwarzen Anzeigetafel hinaufschaue, wo die Abfahrtszeiten der Züge und die Zielbahnhöfe so schnell durchrasseln wie Vermögenswerte an der Börse.
In zwei Minuten soll von Bahnsteig vierzehn ein Zug nach Gretz-Armainvilliers abfahren. Nehme ich ihn oder nicht? Aus den Lautsprechern dröhnt der verstümmelte Singsang einer Frauenstimme. Niemand kann verstehen, was sie sagt - außer mir.
»Nimm ihn, Annie!«, rät sie mir.
Also renne ich los. Der Bahnsteig ist schon leer, nur ein paar Schaffner stehen noch herum. Sie haben die Mützen zurückgeschoben und ziehen an ihren Zigaretten. Doch der Zug ist noch da. Der große Zeiger der schmutzigen alten Uhr über dem Bahnsteig rückt schon in Richtung zwölf - Abfahrtszeit elf Uhr. Als die Pfeife schrillt und der Zug sich bereits langsam in Bewegung setzt, springe ich in den letzten Wagen.
Ich fahre nach Ozouer-le-Voulgis, Marcs Heimatort.
Warum ich in dieses winzige Dorf will, weiß ich nicht. Möchte ich bloß das Haus in der Rue de la République wiedersehen, vom Marktplatz aus ein Stück die Straße hinauf? Oder will ich sehen, wie Marcs Eltern sich hinter den Fenstern bewegen? Oder vielleicht sogar seinen alten Kastenwagen, der vor dem Haus parkt, genau wie in alten Zeiten, wenn wir sonntags zum Mittagessen kamen? Vielleicht erhasche ich durch das kleine Dachfenster oben in dem alten Gemäuer ja sogar einen Blick auf Charlie, der in den alten Koffern gräbt, wenn ich mich nur genügend anstrenge. Dabei weiß ich, was mein Elfjähriger sagen würde, wenn er hinausgucken und mich da unten auf der Straße bemerken würde, wie ich einsam zu ihm hinaufblicke: »Du hast sie nicht mehr alle, Mummy.«
Ja, das kann sein.
Ich schaue aus dem Zugfenster und beobachte, wie die hässlichen, wild wuchernden Pariser Vororte mit ihren Supermarktkomplexen aus grauem Beton allmählich in flaches, offenes Land übergehen. Im Vergleich zu den wogenden grünen Hügeln rings um Lherm wirkt diese Landschaft karg und eintönig.
Drei Reihen weiter sitzt mir gegenüber ein Mann. Er blickt von seiner Zeitung auf und lächelt. ich wende mich ab und schaue wieder aus dem Fenster. Vom Bahnhof aus werde ich den B US nehmen müssen. Dieses mal bin ich nicht zum Mittagessen eingeladen. Warum also unternehme ich diese Fahrt?
Ich glaube, ich weiß den Grund. Ich liege nachts in meinem Hotelbett und verfluche ihn, hasse ihn. Und durch unbeherrschbare Wogen der Verzweiflung bekommt meine Wut immer neue Nahrung. Wie konntest du das tun, Marc? Wie konntest du mir das antun? Wie konntest du es Charlie antun? Mit meiner besten Freundin? Und doch, trotz allem - ich vermisse ihn. Ich wache nachts auf und spüre das Gewicht seines Körpers auf der Matratze, den Zug des Lakens, wenn er sich umdreht, und meine Hand rutscht hinüber, greift in der Dunkelheit nach ihm. Ich bin überzeugt, dass ich den Umriss seines Körpers sehen und ihn atmen hören kann. Wenn ich dann morgens aufwache, drehe ich den Kopf, suche sein Gesicht, seine Augen, die Lachfältchen, wenn er auf dem Kopfkissen neben meinem lächelt. »Marc?« Aber er ist nicht
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