Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman
meinem jetzigen Wissen sollte ich mir eigentlich ein paar Aktien kaufen. Aber ich bin nicht mit dem Herzen dabei. Für Geld kann ich nicht bekommen, was ich mir wünsche.
Irgendwann am Vormittag lichtet sich die Menge. An meinem Stand ist es vorübergehend ruhig. Ich nutze die Gelegenheit, um mich auf der Messe umzuschauen. Alle großen internationalen Unternehmen sind hier vertreten. Ich höre das zögernde Englisch der anderen Repräsentanten, während ihre potentiellen Kunden mit amerikanischem, deutschem und japanischem Akzent zurückbrüllen.
Ich sehe den Stand erst, als ich das andere Ende der Halle erreicht habe, denn er befindet sich hinten in der Ecke. Alsttel. Das hätte ich eigentlich wissen sollen. Schließlich mischten sie in den boomenden Neunzigern, als das Internet flügge wurde, an erster Stelle mit.
Plötzlich fällt mir ein, dass Marc dort sein könnte. Seit jenem Sonntag habe ich ihn weder gesehen noch gesprochen. Ein ganzer Monat ist inzwischen vergangen - ein ganzes Leben. Jeden Morgen bin ich in meinem Hotelzimmer aufgewacht und habe gedacht: Hier bin ich wieder, und hier bleibe ich. Bei diesem Eingeständnis wird mir das Herz schwer, als handle es sich bei meinem Aufenthalt hier um eine Gefängnisstrafe. Und ich habe lebenslänglich gekriegt. Also bin ich bisher in diesem seltsamen neuen Dasein umhergetapst und habe das Nötigste getan, um zu überleben. Aber das ist auch alles. Ich habe keine Energie, um mir eine endgültige Bleibe zu suchen. Endgültigkeit macht mir in dieser seltsamen neuen Welt Angst. Solange ich im Hotel wohne, ist nichts endgültig, noch nicht. Ich wache auf, arbeite, und nachts träume ich - von Charlie.
Von Marc.
Ich flüchte mich hinter eine Säule und halte von da aus verstohlen Ausschau nach ihm. Eine Menschentraube umlagert die Reklamewände, und einige Vertreter halten sich lächelnd bereit, scharf auf Provisionen für den Verkauf. Ich kann Marc nicht entdecken, aber für alle Fälle warte ich noch und beobachte weiter heimlich den Stand.
»Tu cherches quelqu'un?« Suchst du jemanden?
Er ist von hinten gekommen, völlig überraschend, daher fahre ich zu schnell herum, sodass ich ihm den Papierbecher aus der Hand schlage und der schwarze Kaffee auf unsere Schuhe spritzt. Marc!
Er grinst. »Je te fais autant de peur que ça?« Habe ich dir solche Angst eingejagt?
Verlegen erwidere ich sein Lächeln. Mein Herz klopft heftig, aber der Schreck ist nur ein Grund dafür. Marcs Lächeln hat immer noch die gleiche Wirkung auf mich - und nicht nur, weil es Charlies Lächeln ist.
»Was machst du denn hier?« Mir fällt auf, dass seine Stimme ein wenig atemlos klingt, sie schwankt - wie immer, wenn er nervös ist. Er bückt sich und hebt den Becher auf.
»Ich bin beruflich hier. Mein Stand ist dahinten.« Mit einer vagen Geste deute ich in die Menge. Marc stößt einen Pfiff aus. »Das imponiert dir, was?«
»Sehr!« Er lacht.
Ich habe dieses Lachen immer gemocht, es kommt tief aus der Kehle und erzeugt eine winzige Bewegung, ein Pochen, in seiner Halsgrube. Am liebsten würde ich die Fingerspitzen dort hinlegen, um Marcs weiche Haut zu spüren - die inzwischen, mit dem Alter, sogar noch weicher geworden ist. Dieses leichte Pochen, seine Verletzlichkeit. Ich bin wirklich ein hoffnungsloser Fall.
»Lass uns zusammen Mittag essen«, sagt er rasch.
»Nein.« Mit einem Kopfschütteln schaue ich in die Richtung, wo ich meinen Stand habe. »Ich muss zurück.«
»Herrgott, Annie, nur Mittag essen. C'est tout!«
Ich wende mich ihm wieder zu, aufgeschreckt von der Dringlichkeit in seiner Stimme, seinem Flehen. Er schaut mir in die Augen. Und da sehe ich seinen Schmerz. Marc leidet genauso wie ich. Ich möchte ihm die Hand auf den Nacken legen, ihn zu mir ziehen, mich an ihn drängen und ihm ins Ohr flüstern: »Komm, lass uns nach Hause fahren!« Ich kann in die Pupillen seiner blauen Augen sehen, direkt in das Schwarze hinein, durch das ich früher in seine Seele blicken, ja, durch das ich mich selbst in seiner Seele sehen konnte.
Aber ich sehe mich dort nicht mehr. Ich sehe sie - Beattie steht vor ihm, seine grünäugige Göttin.
»S' il te plaît, Annie, können wir das nicht hinter uns lassen? Kannst du mir nicht verzeihen?«
Doch, möchte ich sagen. Du lieber Gott, doch, das kann ich! Aber meine alte Freundin ist immer noch da, sie steht zwischen uns und grinst. Du bist also Australierin? Das hätte ich nie vermutet. Und ich kann nicht an ihr
Weitere Kostenlose Bücher