Kottenforst
Nummer, die sie noch im Kopf hatte. Es konnte falsch sein. Mit jedem Ton des Freizeichens glaubte sie das ein bisschen mehr. Als sie im Begriff war aufzulegen, hob am anderen Ende der Leitung jemand ab.
»Holzbeisser.«
Seine Stimme klang angenehm warm und überhaupt nicht verschlafen. Er schien noch nicht im Bett gewesen zu sein. Die Nacht nach der Beerdigung seiner Frau konnte für ihn keine Nacht sein wie jede andere. Pilar dachte nicht mehr ans Auflegen. Es würde guttun, mit ihm zu reden.
»Dirk, er war wieder hier! Er hat versucht, mit dem alten Schlüssel die Haustür zu öffnen.«
»Soll ich rüberkommen?«
»Ja, bitte.«
»Ich bin gleich da.«
Als sie auflegte, befiel sie das Gefühl, das sie in Zusammenhang mit Holzbeisser schon kannte. Vorsicht. Konnte sie ihm trauen? So sehr, dass sie ihn mitten in der Nacht ins Haus ließ, in dem sie sich allein mit dem Kater befand? Sie machte sich ein Bild von ihm, ein positives, das lag an seiner Stimme, den Grübchen und seiner Liebe zu Büchern. Aber war es zutreffend? Sie wählte noch einmal seine Nummer, hörte aber nur das Freizeichen. Er war schon unterwegs zu ihr. Als hätte er mit ihrem Anruf gerechnet. Um Gottes willen! War es ein Fehler gewesen?
Pilar ging zurück ins Schlafzimmer, setzte sich auf die Bettkante und streifte die Wollsocken über ihre geröteten Füße. Über den Schlafanzug zog sie eine lange Strickjacke, das musste reichen. Während sie die Knöpfe schloss, fiel ihr Blick auf die Schreibtischplatte. Dort lag immer noch das weiße Kärtchen von Nadja Fischmann. Unter dem Namen standen eine Festnetznummer sowie eine Adresse, die mit schwarzem Filzstift unlesbar gemacht worden war. Pilar nahm das Telefon vom Nachttisch, legte es wieder zurück und griff stattdessen nach ihrem Handy. Die Handynummer würde Frau Fischmann ihr nicht zuordnen können.
Es dauerte eine Weile, bis unter der Nummer jemand abhob.
»Hallo?«
Pilar legte auf. Die Stimme hatte ein wenig atemlos geklungen, als wäre die Frau gerade erst die Treppe heraufgekommen. Doch ebenso gut konnte sie aus dem Bett gesprungen sein, weil das Telefon sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Das leichte Keuchen war kein Beweis dafür, dass sie einige Minuten vorher an einer fremden Haustür gestanden hatte. Es war eine dusselige Idee gewesen, bei ihr anzurufen.
Als Pilar in die Küche ging, hörte sie von der Straße her Schritte. Sie trat ans Fenster und sah ihn um die Ecke kommen. Ohne Mantel, in einem Rollkragenpullover aus grober Wolle. Er wirkte so fremd auf sie, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Sie holte den marokkanischen Säbel aus dem Wohnzimmer und schob ihn unter den Zeitungsstapel, der auf der Kommode in der Diele lag.
»Weit und breit niemand zu sehen«, sagte Holzbeisser, als er eintrat.
Sie schloss die Tür. Er überquerte, leicht hinkend, den Dielenteppich. Sie blieb an der Haustür stehen. Ein schwacher Duft zog an ihr vorüber, ein Parfum, Deo oder Aftershave. Sie erschrak. Es war die gleiche Art Lederduft, den sie Montagnacht in ihrem Schlafzimmer wahrgenommen hatte. Ihr Blick flatterte über Holzbeissers Körper. War es möglich?
»Deine Nerven sind überreizt.« Er drehte sich zu ihr um. »Du brauchst Erholung.«
Das hätte auch Richy sagen können. In mancher Beziehung ähnelten sich die zwei, auch äußerlich. Dirk war schlanker als Richy, doch auch er war groß und hatte einen breiten Oberkörper. Die Größe des Kerls in ihrem Schlafzimmer konnte sie nicht einschätzen, aber für die alte Frau auf der Straße und die Gestalt an der Haustür schien ihr Holzbeissers Figur nicht die richtige. Das Lederparfum war vielleicht eine beliebte Marke, die sich in jedem Kaufhaus erwerben ließ. Die auch eine Frau gekauft haben konnte … Ihr kam ein ganz neuer Gedanke.
»Dirk … Wie gut kennst du Nadja Fischmann?«
Holzbeisser lachte auf. Es klang überrumpelt und verlegen. Er kennt sie gut, dachte Pilar überrascht.
»Warum fragst du?«
»Sie war es, die eben vor der Tür gestanden hat.«
Er lachte erneut. Jetzt kam ihr das Lachen noch verkrampfter vor.
»Pilar, das ist unmöglich.«
»Es war ihr Gang, ihre Figur.«
»Das ist einfach nur abwegig.«
»Weißt du, wo sie wohnt?«
»Warum willst du das wissen?«
»Ich will nachprüfen, ob sie im Bett war oder feuchte Schuhsohlen hat.«
»Meine liebe Pilar, was ist mit dir los? Was würdest du sagen, wenn mitten in der Nacht jemand bei dir auftauchen würde, um zu sehen, ob du im Bett bist?«
»Mein lieber
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