Kottenforst
dem Wald, man versaut sich dort immer die Schuhe. Und ich glaub auch nicht, dass er den Wald so toll findet. Nur das Spiel findet er toll, und diesen Vidar. Er hat sein neues Notebook dabeigehabt. Jetzt weiß ich genau Bescheid. Der Vidar ist ein Typ mit einem Dolch, der immer rot vor Blut ist. Und der muss rot bleiben, sonst verliert er seine Kraft. Deshalb muss der Vidar immer ein neues Opfer finden, sonst muss man ein Level zurück. Oder Vidar muss sich selbst verletzen, dann kommt er auch weiter.
Das hat er, also mein Vidar, mir alles erklärt und dann plötzlich das Brotmesser genommen und sich in den Arm geritzt, der halbe Tisch war voll Blut. Ich hab ihm den Arm mit dem Küchenhandtuch verbunden und dreimal alles gewischt, bis das Blut weg war. Er hat ganz glänzende Augen gehabt und mir erzählt, dass Vidar immer präzise zusticht. Egal, wo er ist, ob er in einem Baum hängt oder im Schlamm steckt, ob er im Wasser angreift oder in schwärzester Dunkelheit. Klar, der ist ja ein Gott, hab ich gesagt und das Brotmesser schnell in die Spülmaschine geworfen. Mir war so was von übel. Ich musste die ganze Zeit an die Premiere denken.
Ich bin wieder ins Bett gegangen, aber ich konnte nicht schlafen. Er hat den Rest der Nacht gespielt und ist frühmorgens zu mir unter die Decke gekommen. Ich hab nicht gewollt, weil … Das kann ich nicht so genau sagen, mein Kopf war randvoll mit allem Möglichen. Und weil er mich nicht in Ruhe gelassen hat, hab ich geschrien. Da ist mein Bruder aufgewacht. Er hat den Vidar zur Treppe gezerrt und rausgeschmissen, aber sicher nicht gehört, was der mir noch zugezischt hat. Das war so leise, als käm es von einer Schlange: »Denk an den Weiher, denk dran.«
An den Weiher denk ich viel zu oft. Aber was ich jetzt über ihn denken soll, weiß ich nicht.
EINUNDZWANZIG
»Pilar, du bist ein Monster«, raunzte Freddy, als Pilar ihn anrief. »Ich hätte noch zwei Stunden schlafen können.«
»Ich hab überhaupt nicht geschlafen und hätte dich beinah drei Stunden früher geweckt«, erwiderte Pilar. »Pass auf: Ich gebe dir jetzt die Adresse von Nadja Fischmann.«
»Nadja heißt sie?«
»Schau bitte nach, ob dir in ihrer Wohnung irgendetwas auffällt. Wenn du unseren Haustürschlüssel siehst, steck ihn ein. Außerdem wären graue Wollsocken interessant. Kriminaltechniker können vielleicht feststellen, ob sie damit bei mir war.«
»Als ob sie der Typ für Wollsocken wäre«, knurrte Freddy. »Und wie soll ich bei ihr reinkommen?«
»Kann nicht so schwer sein. Ich glaube, sie mag dich.«
»Wir haben fast Wochenende, da kommt ihr Mann.«
»Keine Sorge, der kommt nicht. Sag einfach, du willst ihr erzählen, was du über den Mord denkst. Das möchte sie sicher wissen.«
»Ich denke da noch nichts Bestimmtes.«
»Googel nach einem verurteilten Serienmörder und bastele dir was zusammen.«
»Pilar, was soll das? Und was willst du mit Kriminaltechnikern?«
»Heute Nacht war jemand an unserer Haustür, schwarz verhüllt. Erst dachte ich, es sei Frau Fischmann, später hatte ich Anja Dreisam in Verdacht, und im Moment halte ich das alles für Quatsch.«
»Gib’s zu: Du hast die Person wieder nur von hinten gesehen.«
»Deshalb geht es mir um Indizien. Bei Anja müsstest du nach den gleichen Dingen Ausschau halten.«
»Obwohl du beide Damen nicht mehr verdächtigst.«
»Nur sicherheitshalber, eine Art Ausschlussverfahren. Ich komme einfach nicht drauf, wer sonst noch in Betracht käme.«
»Also, Wollsocken und euer Schlüssel. Wie sieht der aus?«
Pilar beschrieb ihm den Schlüssel.
»Ich sehe mich auch nach defekten Gürtelschnallen um. Den Dorn habe ich noch in der Tasche.«
»Ruf mich bitte an, wenn du fertig bist.«
Der arme Freddy, es war noch nicht mal sieben Uhr! Pilar saß auf dem Sofa und trank in kleinen Schlucken einen Becher Kaffee. Für die nächste Viertelstunde hatte sie sich vorgenommen, ihre Beobachtungen noch einmal sorgfältig durchzugehen. Um es beim Nachdenken bequemer zu haben, legte sie die Füße auf den Couchtisch. Im nächsten Moment schlief sie ein.
Die schmetternden Anfangstakte der »Marcha Real« weckten sie auf. Freddy? Sie griff nach dem Telefon, das neben ihr auf dem Sofa lag.
»Guten Morgen, Pilar. Darf ich dir etwas vorbeibringen?«
»Morgen, Dirk«, murmelte Pilar überrascht.
»Ich stehe vor deiner Tür.«
Pilar ging in die Diele und riss die Tür auf. Das Erste, was sie sah, war ein Topf mit rosa Orchideen. Darunter befanden sich
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