Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kottenforst

Kottenforst

Titel: Kottenforst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexa Thiesmeyer
Vom Netzwerk:
hatte herumliegen lassen, und erwähnte auch den fatalen Satz nicht, den Kevin von sich gegeben hatte. Pilar dachte mit Dankbarkeit an den Fotografen und die blasse junge Journalistin, die sie im Saal gesehen hatte.
    Gleichwohl wäre Pilar am liebsten wieder ins Bett gekrochen. In den beiden vergangenen Nächten hatte sie schlecht geschlafen. Wieder und wieder hatte sie den Schrei im Ohr gehabt, gellend, lang gezogen und so nah, als ob die mörderische Handlung sich in ihrem Schlafzimmer ereignete. Sobald sie die Augen schloss, sah sie vor sich, was sie in Wirklichkeit nicht gesehen hatte: wie die Frau zusammenbrach und ihr Pulli sich rot färbte, wie der Griff des vertrauten Messers aus ihrer Brust ragte und wie der Täter sich auf weichen Sohlen entfernte, gesichtslos und mit verschwommenen Konturen, ein Phantom. Vielleicht wohnte er weder hier noch anderswo in Bonn, sondern war aus Köln oder Amsterdam, ein professioneller Killer, der nie in diese Gegend zurückkommen würde. Doch ebenso denkbar war, dass sie an der Bushaltestelle, beim Bäcker oder in einem der Röttgener Läden, in denen sie gelegentlich einkaufte, schon neben ihm gestanden hatte und heute oder morgen an ihm vorübergehen würde, ohne etwas zu ahnen. Nicht alle, die hier lebten, waren so, wie ihr gepflegtes Äußeres vermuten ließ, und manches war schon passiert, was man zuvor nicht für möglich gehalten hatte. Es war noch nicht lange her, dass ihre Freundin Vera im Nachbarhaus Schüsse gehört hatte, die, wie sich später herausstellte, ein Mann auf seine Ehefrau abgefeuert hatte, der bereits wegen Totschlags im Gefängnis gesessen hatte. Ende Oktober schoss ein Ministerialbeamter in Jagdkleidung aus dem Gebüsch am Friedhof auf einen Kollegen, den er angeblich für ein Wildschwein hielt, und vor zwei Wochen erschütterte ganz Ückesdorf die Nachricht von einem nächtlichen Raubüberfall, den das Opfer, eine alte Dame, nicht überlebt und die Polizei noch nicht aufgeklärt hatte.
    Pilar faltete die Zeitung zusammen und trank ihren Kaffee. Inzwischen war er lauwarm und schmeckte nicht mehr, aber vielleicht half er ihr, sich endlich aufzuraffen. Auf ihrem Schreibtisch im Schlafzimmer warteten stapelweise Bücher, Neuerscheinungen von der Frankfurter Buchmesse, die sie Mitte Dezember in einer Radiosendung und im Januar in der Volkshochschule und einigen Literaturkreisen vorstellen sollte. Sie mochte diesen Job, aber diesmal sah es so aus, als würde die Zeit zu knapp. Der Kriminalroman, den sie gestern in Angriff genommen hatte, lag aufgeschlagen auf dem Stuhl neben ihr. Schiller, Goethes schmächtiger dunkler Bruder, hatte sich zum Schlafen darauf ausgebreitet – im Moment die sinnvollste Verwendung des Buches. Sie war nicht in der Lage, sich darauf zu konzentrieren.
    Ihre Fingerspitzen strichen über das schwarze Fell, das feiner und glänzender war als Goethes getigerter Pelz. Schiller wandte ihr den Kopf zu und öffnete die Augen zu schrägen Schlitzen. Das Sonnenlicht, das gerade durch die Wolken brach und durchs Küchenfenster fiel, ließ den orangegelben Strich auf seiner Stirn leuchten wie ein geheimnisvolles Mal. Zwischen Augen und Schnurrbart hatte er weitere helle Flecken. Die langen geschwungenen Schnurrhaare glitzerten in Schwarz und Weiß.
    Die spanische Nationalhymne schreckte Pilar auf – sie drang vom Telefon, das im Wohnzimmer auf der Ladestation stand, herüber. Ihr Vater, der aus Sevilla stammte, hatte es ihr kurz vor seinem Tode geschenkt. Es wäre eine Sünde gewesen, einen anderen Klingelton einzustellen, auch wenn Richy jedes Mal das Gesicht verzog, wenn die »Marcha Real« durchs Haus tönte. Pilar mochte die getragene Melodie, die sie veranlasste, nicht hektisch zum Telefon zu rasen, sondern mit Würde darauf zuzuschreiten wie eine Prinzessin von Kastilien im Staatsornat – was oft dazu führte, dass der Anrufer bereits aufgegeben hatte, wenn sie abhob.
    »Álvarez-Scholz.«
    Am Telefon war Freddy, der hielt immer durch. Er bat um Verzeihung für seine »dummen Worte« vom Samstagabend und fragte, wie er es wiedergutmachen könne.
    »Überhaupt nicht«, sagte Pilar und legte auf.
    Das war zu hart für den alten Freund, mit dem sie als Studentin gemeinsam hinterm Tresen gestanden und die halbe Nacht Bier gezapft hatte. Sie überlegte, ob sie sofort zurückrufen und sich entschuldigen sollte. Aber sie wollte nicht an Freddys Worte erinnert werden. Jetzt, wo sie sich einigermaßen beruhigt hatte, wollte sie überhaupt

Weitere Kostenlose Bücher