Kovac & Liska 02 - In aller Unschuld
beschlossen, alles hinter sich zu lassen und ein neues Leben zu beginnen, und war in einen Bus nach San Diego gestiegen. Wer hätte ihm daraus einen Vorwurf machen können?
Sie bog um die hintere Ecke. Haas saß an einem Klapptisch im Garten, die Ellbogen aufgestützt, den Kopf in den Händen vergraben.
»Mr. Haas?«
Er hob den Kopf und sah ihr entgegen, während sie auf ihn zuging.
»Tut mir leid, dass ich Sie stören muss«, sagte sie.
»Ach ja?«
Er schien irgendwie kleiner geworden zu sein. Blass im gleißenden Sonnenlicht.
»Sie sind nicht hier, um mir zu sagen, dass Sie Dahl erwischt haben«, sagte er.
»Nein. Ich wünschte, ich könnte es.«
»Dann sind Sie hier, um mir irgendetwas vorzuwerfen. Was denn? Ich sehe nicht mehr fern. Kommen sowieso nur schlechte Nachrichten.«
Liska ließ sich ihm gegenüber nieder und legte ihre Arme auf den Tisch. Sie hatte bereits beschlossen, ihm nicht zu erzählen, dass Richterin Moore entführt worden war, sollte er nicht selbst davon anfangen. So würde sie weniger Misstrauen bei ihm wecken, wenn sie ihm Fragen über seinen Sohn stellte.
»Sieht so aus«, sagte sie. »Wie geht es Ihnen?«
Er versuchte zu lachen, es fehlte ihm jedoch an der nötigen Energie. »Was kümmert Sie das?«
Liska stieß einen Seufzer aus. »Wissen Sie, in unserem Job muss man früh lernen, sich nicht mit den Opfern oder ihren nächsten Angehörigen zu identifizieren. Es bringt einen in Schwierigkeiten und nimmt einem die Fähigkeit, objektiv zu sein. Aber das bedeutet nicht, dass wir keine Gefühle haben, Mr. Haas. Es tut mir leid, dass Sie so viel durchmachen mussten. Ich habe zwei Söhne. Und jeden Tag sehe ich, was alles passiert, was Menschen einander antun … und ich denke an meine Kinder. Was wäre wenn? Was würde ich tun? Ich glaube nicht, dass ich weitermachen könnte.«
Haas schwieg einen Moment und sah zu den Bäumen am Ende seines Grundstücks. »Sie würden weitermachen«, sagte er schließlich. »Sie würden nicht wissen, wie oder warum, aber Sie würden es tun.«
»Um zu sehen, wie der Gerechtigkeit Genüge getan wird?«
»Ich weiß nicht. Was ist Gerechtigkeit? Jedenfalls nicht das, was Karl Dahl bekommen hat.«
»Er wird ihr nicht entgehen«, sagte Liska, obwohl sie keine Ahnung hatte, ob das tatsächlich jemals passieren würde. In diesem Leben bekamen Verbrecher nicht immer das, was sie verdienten. Das war einer der Gründe, warum sie an Gott glaubte, die Hoffnung, dass er sie im Leben danach ihrer gerechten Strafe zuführen würde.
»Manchmal ist es nur die Wut, die einen aufrecht hält«, gestand er. »Und man denkt, wenn man dieser Wut freien Lauf lässt, dann wird alles egal.«
»Haben Sie jemanden, mit dem Sie darüber reden können?«, fragte Liska. »Einen Freund? Einen Priester?«
Er versuchte erneut zu lachen. »Ich habe niemanden. Keiner will was mit mir zu tun haben. Es ist, als würden sie es für ansteckend halten, als könnte jemand auch in ihr Haus eindringen und ihre Familie umbringen.«
»Sie haben Ihren Sohn.«
»Ich müsste eigentlich um seinetwillen stark sein. Stattdessen kümmert er sich um mich, als wäre ich krank und schwach.«
»Er liebt Sie sehr«, sagte Liska. »Es wundert mich, dass er nicht hier bei Ihnen ist.«
»Er hat heute bei seinem Freund, dem Jungen der Waldens, übernachtet. Er ist viel zu viel zu Hause. Manchmal muss ich ihn regelrecht rauswerfen, ihn dazu zwingen, seinen Spaß zu haben. Bis jetzt hatte er nicht viel Gelegenheit dazu.«
»Wie alt war Bobby, als Sie und Ihre erste Frau ihn aufgenommen haben?«
»Zehn.«
»Das muss eine große Umstellung für Sie alle gewesen sein.«
Haas erwiderte nichts darauf. Er nahm eine Zigarette aus der Schachtel auf dem Tisch und steckte sie sich zwischen die Lippen. Er sah an Liska vorbei, als wäre sie gar nicht da.
»Wenn ich richtig informiert bin, hat seine leibliche Mutter Selbstmord begangen.«
»Sie hat sich erhängt«, sagte er und zündete die Zigarette an. »Vor seinen Augen.«
»Wie furchtbar.«
Liska konnte nur versuchen, sich vorzustellen, was ein solches Erlebnis bei einem Kind anrichten mochte. Ein Zehnjähriger, der mit ansehen musste, wie sich die eigene Mutter umbrachte. Was hatte er gedacht und gefühlt? Hilflosigkeit. Machtlosigkeit. Entsetzen. Wut darüber, dass seine Mutter ihn alleinließ. Schuld, weil Kinder sich oft dafür verantwortlich fühlten, wenn etwas Schlimmes geschah. Weil sich ihre ganze Welt um sie drehte, dachten sie, sie hätten es
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