Krach der Kulturen um einen Fahrstuhl an der Piazza Vittorio - Roman
Volk, dem der Verrat in Fleisch und Blut übergegangen ist. Im Zweiten Weltkrieg haben wir an der Seite der Deutschen gekämpft, dann haben wir den Spieß umgedreht und uns mit den Amerikanern verbündet. Ich weiß noch gut, wie die amerikanischen Soldaten in den Straßen von Neapel unterwegs waren. Ich war eine hübsche Guagliona und alle Guaglioni waren hinter mir her.
Wir sind schon ein komisches Volk. Mussolini und seine Geliebte Claretta haben wir auf einem öffentlichen Platz in Mailand umgebracht. Wir haben den König und seine Familie aus dem Land gejagt und ihnen verboten, wieder zurückzukommen. Wir haben den Papst und die Heilige Kirche vor den Kopf gestoßen, als die Mehrheit im Parlament für die Ehescheidung gestimmt hat. Und wir haben im Fernseher Giulio Andreotti auf der Anklagebank gesehen und die Schlampe Cicciolina auf der Parlamentsbank. Ich bin nicht so gebildet wie Ihr, aber ich habe das Recht, Fragen zu stellen: Mal angenommen, Andreotti hat mit der Mafia gemeinsame Sache gemacht – heißt das dann, dass ich, ohne es zu wissen, die Mafia gewählt habe? Und heißt das, dass die Mafia Italien jahrzehntelang regiert hat? Und wie man hört, tut die Lega Nord alles Mögliche, um das Land zu teilen und einen neuen Staat namens Padania zu gründen. In was für einem Land leben wir eigentlich? Jesus, Maria und Josef! Maronna mia, hilf!
Ich hoffe, dass der Herr Amedeo bald zurückkommt. Dann werdet ihr merken, dass ihr einen großen Fehler gemacht habt. Ich sag’s ja, dies ist das Wunderland. Von heute an würde es mich nicht mehr wundern, wenn ich jemanden sagen hören würde, dass Giulio Andreotti Albaneser oder Pakistaner oder von den Philippinen ist. Der Herr Amedeo ist der einzige Hausbewohner, der mal ein bisschen mit mir plaudert. Er nennt mich immer Signora Benedetta und vermeidet es, den Aufzug zu benutzen, aus Respekt vor meiner Arbeit. Er weiß, wie ich mich abplage, damit für die Hausbewohner alles seinen geordneten Gang geht. Das Verschwinden von Herrn Amedeo und die ungerechtfertigte Anklage wegen dem Mord am Gladiatore werden wohl dazu führen, dass ich Rom vor der Zeit verlasse und endgültig nach Neapel zurückkehre. Ja! Der heilige Gennaro ruft mich! Ich werde in Neapel in die Kirche von San Domenico gehen und für den Herrn Amedeo beten.
Zweiter Wolfsgesang
Donnerstag, 4 . Februar, 23 . 14 Uhr
Ich habe ganz umsonst versucht, die Hausmeisterin Benedetta davon zu überzeugen, dass Parviz kein Albaner und dass merci ein französisches Wort ist, das danke bedeutet, und dass man es mit derselben Bedeutung auch im Iran benutzt. Als ich heute Abend nach Hause gekommen bin, hat sie mich wie üblich aufgehalten. Nach langem Blabla, in dessen Verlauf sie betonte, ich sei für sie wie ein Sohn, legte sie mir nahe, mich von dem Albaner fernzuhalten: »Dieser Gauner! Er wird dir einen Haufen Probleme bescheren, es gibt nämlich Zeugen, die gesehen haben, dass er auf der Piazza Santa Maria Maggiore mit Drogen handelt und nur so tut, als würde er die Tauben füttern!« Die Polizei habe ihn ja mehrfach eingesperrt, aber sie, Benedetta, habe nicht verstanden, warum er jedesmal so schnell wieder freigelassen worden sei.
Dienstag, 4 . Juni, 22 . 57 Uhr
Das krankhafte Verhältnis, das Benedetta zum Fahrstuhl entwickelt hat, gibt einem doch so manches Rätsel auf. Heute Morgen war sie ziemlich sauer auf Parviz. Lang und breit beklagte sie sich darüber, dass der Albaneser – so nennt sie Parviz – »den Aufzug kaputtmacht«, damit sie ihre Arbeitsstelle verliert, weil man glauben soll, dass sie alt sei und nicht in der Lage, sich um die Hausbewohner zu kümmern. Ich habe ihr zugesagt, mit Parviz zu sprechen, um dieses Problem zu lösen. Ich hasse diesen Aufzug geradezu, weil er mich an ein Grab erinnert. Ich hasse beengte Räume, mit Ausnahme meines Badezimmers. Das ist mein Nest. Heute habe ich in der Zeitschrift
Focus
einen Artikel über den Wiedehopf gelesen; sieht so aus, als wäre das der einzige Vogel, der in sein eigenes Nest macht. Und es gibt noch einen Vogel, der so seltsam ist wie der Wiedehopf: der Rabe. Als Kain nicht wusste, was er mit dem toten Körper seines Bruders anfangen sollte, bedeutete ihm ein Rabe, dass er eine Grube ausheben müsse. Man sagt, dies sei der erste Mord auf Erden gewesen – was bedeutet, dass der Rabe der erste Bestattungsexperte der Menschheitsgeschichte war. Ich bin ein besonderer Rabe. Meine Aufgabe ist es, die blutbefleckten Erinnerungen zu
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