Krach der Kulturen um einen Fahrstuhl an der Piazza Vittorio - Roman
Jungfrau Maria beten; sie ist die Einzige, die mich vor grausamen Menschen beschützt.
Ich fühl mich so schrecklich einsam, dass manchmal nicht viel fehlt und ich werde verrückt. Ich schau den ganzen Tag fern und esse viel. Riesige Mengen an Schokolade stopfe ich in mich rein. Wie Sie sehen, bin ich sehr dick. Ich würd ja schon gern abnehmen, aber unter diesen Gegebenheiten schaffe ich das einfach nicht. Macht auch nichts, Abnehmen ist keine Hexerei. Wenn ich mal heirate, dann werd ich gelassener sein und die Kilos automatisch verlieren. Sie haben mir verboten, Freunde mit in die Wohnung zu bringen, weil sich Nachbarn beschwert hatten. In Wahrheit hat die verfluchte Benedetta gegenüber der Tochter der Alten, Signora Paola, schlecht über mich gesprochen. Sie erzählte ihr, dass ich Männer nach Hause bringen würde, dass ich die ganze Nacht mit ihnen zusammen sei und mich deshalb nicht um die Kranke kümmere. Dann haben sie mir auch noch die Verantwortung für den kaputten Aufzug in die Schuhe geschoben. Sie glauben, mein Körpergewicht würde den armen Fahrstuhl überfordern und sagen: »Erst abnehmen, dann den Aufzug benutzen!«
Finden Sie’s richtig, dass sie mir verbieten, den Aufzug zu benutzen, und gleichzeitig erlauben sie dem Hund von Signora Fabiani, da drin Pipi zu machen? Dieser Hund hat’s besser als ich – er darf mehr als zehnmal am Tag vor die Tür und spaziert durch den Park auf der Piazza Vittorio wie ein kleiner Prinz oder ein verzogenes Kind. Ich dagegen kann nicht mal für eine Minute aus dem Haus gehen, weil die Signora Rosa herzkrank ist. Was würde passieren, wenn ihr Herz aufhört zu schlagen, und ich bin nicht da? Die Folgen für mich will ich mir lieber gar nicht vorstellen. Ich beneide den kleinen Valentino. Ich habe schon öfter geträumt, dass ich an seiner Stelle wär. Bin ich eigentlich ein menschliches Wesen? Manchmal bezweifle ich das. Ich hab ja nicht mal die nötige Zeit, um zur Sonntagsmesse zu gehen oder bei einem Priester zu beichten, damit mir meine Sünden vergeben werden. So wird die Verdammnis auf mich niederfahren und drüben, in der anderen Welt, wird mich die Hölle erwarten.
Der Signor Amedeo ist ein Mörder! Das ist doch absurd. Ich bin von seiner Unschuld überzeugt. Und sie beschuldigen ihn auch, ein Einwanderer zu sein. Ist Einwanderung schon ein Verbrechen? Ich versteh einfach nicht, warum sie uns so sehr hassen. Perus Ex-Präsident Fujimori ist aus Japan eingewandert. Wie viele Lügen wir im Fernsehen über Einwanderer hören! Und dennoch kann ich ohne Fernseher nicht sein. Einmal ist er kaputtgegangen. Ich merkte, wie meine Hände zitterten und mein Herz raste. Einen nach dem anderen rief ich die vier Kinder der Signora Rosa an und bat sie, sofort zu kommen. Sie dachten schon, ihre Mutter sei gestorben oder läge wenigstens im Sterben. Signor Carlo hat sogar ein Bestattungsunternehmen angerufen, bevor er kam. Und als sie dann da waren, fanden sie mich in einer deprimierenden Lage vor. Die Signora Rosa stand neben mir und schrie mich an, dass ich aufhören soll zu heulen. Dann nahm ich alle meine Kräfte zusammen und sagte: »Ich bleibe keine Minute länger in diesem Haus, wenn ihr nicht sofort den Fernseher in Ordnung bringt!« Signora Laura bat ihren Mann, einen neuen Fernseher zu besorgen. Die vier Kinder der Signora Rosa haben das Haus erst verlassen, als sie sahen, wie ich in eine neue Folge von
Beautiful
auf Canale 5 vertieft war. Das Fernsehen ist ein Freund, ein Bruder, ein Ehemann, ein Kind, eine Mutter und die Jungfrau Maria. Das Fernsehen ist eben wie die Luft. Könnte man denn leben ohne zu atmen?
Ich schaue jeden Tag die mexikanischen und brasilianischen Telenovelas an und kenne alle Einzelheiten aus dem Leben der Schauspieler. Ich kann Ihnen sagen, dass ich mich vor der allerletzten Folge fürchte wie vor der Beerdigung meiner Mutter. Jedenfalls sehe ich mich nicht als normale Zuschauerin, sondern als Schauspielerin mit einer wichtigen Rolle in der Serie. Ganz oft rufe ich den Personen meinen Rat zu: »Pass auf, Marina, Alejandro liebt dich nicht, er ist ein Betrüger und will nur an dein Geld und dich dann aus dem Schloss deines Vaters davonjagen!« Oder: »Sprich mit ihr, Pablo, sag ihr, dass du sie liebst und sie heiraten willst!« Oder: »Caterina, sei nicht so hart zu deinem Mann, du wirst ihn noch in die Arme seiner neuen Geliebten treiben, dieser Hure von Silvana!« Ich bin meist solidarisch mit den Armen, Schwachen und Verstoßenen,
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