Kräuter-Code: Zehn Kurzgeschichten aus dem schwulen Leben (German Edition)
den Wänden und in den Fenstern. Alle.
Sie wissen Bescheid.
Es kann kein Zufall sein, dass die heutige Predigt von der schlimmsten aller Sünden handelte. Von der größten Abscheulichkeit.
Wollust ist etwas Grauenhaftes, Widernatürliches. Aber man kann sich dagegen stellen und davon reingewaschen werden. Doch sich nach einem anderen Jungen zu sehnen, ist der Abgrund der
Falschheit.
Mir war, als wüsste jeder, dass ich gemeint bin. Als hätte sich ein bunter Pfeil über meinem Kopf gebildet, der sagt: „Da ist er. Von ihm rede ich!“
Ich kann nicht aufhören, an ihn zu denken. An Jens, der dummerweise in meiner Klasse ist. Er ist gleich zwei Mal hängen geblieben, deshalb sieht er älter aus.
Ich bekomme ihn nicht aus dem Kopf. Ich lausche, wenn er mit meinen Mitschülern redet. Ich treibe mich in seiner Nähe herum, obwohl ich es nicht will. Ständig muss ich ihn
ansehen.
Heute Morgen ging er vor mir her in den Speisesaal. Wie hypnotisiert bin ich ihm gefolgt. Ich wollte einen Schritt zulegen und mich ihm nähern. So tun, als ob ich stolpere und zufällig
gegen ihn stoßen.
Ich kann es fast nicht aufschreiben, aber ich will mich von hinten an ihn drücken.
Gott, lieber Gott, ich bin ekelhaft. Ich weiß es. Aber du musst mir helfen. Du musst mich davon freisprechen. Ich kann so nicht leben.
Ich möchte fort. Weit weg an einen Ort, an dem niemand mich kennt und an dem keiner weiß, was in mir vorgeht. Wo ich mich nicht verstecken muss. Am besten dorthin, wo keine Menschen
leben. Allein sein. Ohne Versuchung und ohne die Gewissheit, dass ich schrecklich bestraft werde, wenn ich je die Maske fallen lasse.
Im Wald ist es friedlich. Die Bäume fangen an zu treiben. Das Moos ist feucht und riecht gut. Es duftet nach Frühling. Frisch und lebendig. Kribbelig. Ganz anders als im Herbst, wenn
der Moder in der Luft liegt und das Laub zu meinen Füßen verfällt.
Waldmeister steht auf der Lichtung. Nicht lange, und man kann die Blüten zwischen den Fingern zerreiben und eine Spur des typischen Geruchs wahrnehmen. Ich vermisse diesen Geruch. Ich
vermisse meine Großmutter. Mit Oma könnte ich reden.
Vielleicht. Irgendwann.
Bis dahin muss ich durchhalten. Lügen. Im Beichtstuhl. Mich zwingen, Jens nicht anzustarren. Und vor allen Dingen die Finger von mir lassen.
St. Thomas, 12. April 1975
Was habe ich falsch gemacht, dass ich so bestraft werde? Ich will nicht so sein. Ich will nicht einer von
ihnen
sein. Ich will meine Eltern nicht enttäuschen.
Ist es eine Prüfung, die ich bestehen muss? Haben alle Jungen Momente, in denen sie ihre Klassenkameraden interessant finden?
Vielleicht würde ich anders fühlen, wenn es Mädchen auf der Schule gäbe. Ja, das muss es sein. Es liegt gar nicht an mir, es liegt an dieser verdammten Schule! An diesem
Gefängnis!
Ich kann es schaffen. Niemand sieht mir etwas an. Ich muss nur normal sein. Mich nicht von meinen eigenen Gedanken jagen lassen. Keine Angst mehr haben. Mich nicht anfassen. Denn wenn ich mich
anfasse, habe ich keine Kontrolle über meine Gedanken.
Ich kann es, ich weiß es. Und wenn ich jede Nacht bis zur Erschöpfung auf den Knien vor dem Bett liege und bete. Ich kann es schaffen.
St. Thomas, 15. April 1975
Ich bin ein Schwächling. Ich kann meine Sünde an meinen Händen riechen. Sie stinkt.
Der Sportunterricht mit Jens in kurzen Hosen hat mich geschafft. Nicht nur, dass ich über meine eigenen Füße gestolpert bin und nicht allein die Hochsprunglatte, sondern auch die
Stative umgerissen habe, ich habe auch gestottert wie ein Idiot, als er mir auf die Beine geholfen hat.
Sein Griff war fest, die Haut weich, und ich konnte nicht anders, als mir vorzustellen, sie auf meinem Bauch, meinem Rücken und an anderen Stellen zu spüren.
Ich möchte ihn küssen. Nur ein einziges Mal.
Vielleicht würde er mir die Nase brechen und ich wäre von meinen widerlichen Wünschen geheilt. Ich sollte zu ihm gehen und ihn darum bitten: „Heil mich, Jens. Ich bin
ekelhaft, und nur du kannst mir helfen.“
Ich glaube, ich drehe langsam durch.
Im Wald, 3. Mai 1975
Ich kann atmen. Zum ersten Mal seit Wochen.
Ich musste abhauen. Für das Schwänzen des Unterrichts bekomme ich gewaltigen Ärger, aber es ist mir egal. Sollen sie mich für Wochen zum Küchendienst verdonnern. Was
kümmert es mich?
Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.
Erst einmal denke ich ernsthaft darüber nach, mein Tagebuch hier im Wald zu verstecken. Ich weiß nicht genau, wie
Weitere Kostenlose Bücher