Kräuter-Code: Zehn Kurzgeschichten aus dem schwulen Leben (German Edition)
meinen schulischen Leistungen kann es nicht liegen. Ich bin kein Überflieger, aber gut genug, um nie um meine Versetzung zu fürchten.
Unsinn habe ich auch nicht gemacht. Wie könnte ich? Die anderen halten mich für einen Streber – oder ein Weichei. Sie laden mich nie ein, an ihren Streichen teilzuhaben.
Alles nur, weil ich vor zwei Jahren verraten habe, dass sie nachts ausrücken wollten. Hätte ich nur meinen Mund gehalten.
Wenn ich weder Querulant noch ein fauler Hund bin, muss etwas anderes die Blicke der Lehrer auf mich ziehen. Und das Einzige, was an mir besonders ist, ist das, was ich jede Woche beichten
muss.
Meine Gedanken. Meine verdorbenen Gedanken. Die Träume, die nachts über mich herfallen.
Pater Ignatius sagt, es mangele mir an Selbstbeherrschung. Er hat sicher recht. Aber ich weiß nicht, wie ich meine Träume kontrollieren soll. Egal, wie viele Rosenkränze er mich
beten lässt, ich wache morgens doch im klebrigen Pyjama auf. Im Halbschlaf wandert meine Hand an Orte, an die sie nicht darf, und tut Verbotenes.
Aber ich habe eine Lösung gefunden. Heute Nacht wird mir das nicht passieren. Ich schwöre es.
St. Thomas, 8. März 1975
Es hat funktioniert. Ich habe Druckstellen an den Handgelenken, aber es hat funktioniert. Lieber Gott, ich bin so erleichtert.
Ich habe immer noch verdorbene Gedanken, aber ich habe mich nicht unsittlich berührt und gesündigt. Man kann den Körper bezwingen. Nun ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis ich
auch meinen Geist kontrolliere. Pater Ignatius hatte recht.
Es regnet immer noch, und es ist schrecklich kalt. Ich würde morgen Nachmittag gern in den Wald gehen.
Es ist keine richtige Sünde, sich durch die Pforte hinter dem Gemüsegarten vom Gelände zu stehlen. Ich habe es damals Pater Benedikt gebeichtet, und er meinte, dass es eine
größere Sünde ist, Gottes Schöpfung nicht zu würdigen. In den Wald zu gehen und sich an der Natur zu erfreuen, wäre nicht schlimm, solange ich meine Hausaufgaben
erledige.
Ich vermisse ihn. Dabei ist er schon über ein Jahr fort. Er war weniger streng als Pater Ignatius und hat mir weniger Bußen auferlegt. Ich frage mich, wer von ihnen es richtig
macht.
Darf man vor seinem Beichtvater Angst haben?
St. Thomas, 13. März 1975
Die Kette ist gerissen. Ich bin am Boden zerstört. In den letzten Nächten habe ich die silberne Kette mit dem Kreuz meiner Großmutter um die Handgelenke getragen. Wenn ich mich
bewegt habe, hat sie eingeschnitten und mich geweckt.
Heute Nacht ist sie durchgerissen. Ausgerechnet heute, wo ich doch beichten musste.
Es war grauenhaft. Nach der Beichte hat mich Pater Ignatius beiseite genommen und mir ins Gewissen geredet. Ich wüsste, warum die Kette gerissen ist. Das Kreuz sei unrein und wirkungslos,
weil ich es von meiner Großmutter bekommen habe.
Ich stand wie vom Donner gerührt. Ich weiß, dass er Oma nicht mag. Dabei kennt er sie gar nicht. Trotzdem behauptet er, dass sie einen schlechten Einfluss auf mich gehabt hat und
für meine verdorbenen Gedanken verantwortlich ist. Von einer Frau, die im schlimmsten Viertel Berlins eine Schenke führt, könne nichts Gutes kommen.
Mir ist nach Weinen zumute. Oma ist immer nett zu mir gewesen. Ja, sie hat mich früher manchmal mit hinter die Bar genommen, wenn sie auf mich aufpassen sollte. Aber sie hat mir nie Alkohol
zu trinken gegeben. In meinem Glas war immer nur Sprudel mit Waldmeistersirup, keine Berliner Weiße.
Ich vermisse sie fürchterlich. Genauso wie Vater und Mutti. Dass ich Oma an ihrem Geburtstag vor drei Wochen nicht sehen konnte, tut mir immer noch leid. Aber daran war nicht zu denken. Ich
hatte keinen Ausgang, und die Reise ist viel zu weit.
Ich will nicht glauben, dass Oma eine schlechte Frau ist, nur weil sie eine Schenke führt, in der es manchmal etwas derb zugeht. Sie ist herzensgut und hat uns früher oft geholfen, als
Vaters Firma am Anfang stand und das Geld knapp war. Sie war immer für mich da. Und sie war dagegen, dass ich St. Thomas besuche. Strikt dagegen sogar. Aber sie konnte es nicht verhindern.
Sind es wirklich schon vier Jahre?
Ich wünschte, ich könnte mit ihr reden. In Ruhe. Nicht zu den Telefonzeiten, bei denen ständig ein Mönch in der Nähe lauert und uns bespitzelt.
Oh Himmel, habe ich das wirklich gerade geschrieben? Muss ich mir gleich für nächste Woche merken. Ich sündige einfach zu oft.
Dabei will ich gut sein. Ich will ein anständiger Mensch sein, aber es fällt
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