Kräuter-Code: Zehn Kurzgeschichten aus dem schwulen Leben (German Edition)
freundschaftlich den Arm um mich legt. Mich anfasst.
Warum hat er das getan? Wir haben doch gar nichts miteinander zu schaffen. Ich halte mich von ihm fern. Ich lasse ihn in Ruhe. Warum kann er mich nicht auch in Frieden lassen? Was meint er, wenn
er sagt: „Schade, dass du gestern Abend nicht mit auf dem Bolzplatz warst.“
Na ja, inzwischen dürfte er seine Meinung geändert haben. Er hat meinen Ständer gesehen. Was fasst er mich auch einfach an?
Ich glaube, er hat noch niemandem davon erzählt. Sonst hätten sie mich vor dem Unterricht verprügelt.
Herr im Himmel, befreie mich. Ich verspreche dir alles, was du willst. Ich werde Mönch oder Priester, wenn du willst. Ich verspreche dir, mich rein zu halten. Ich bin bereit, alles zu tun,
was du dir von deinen Kindern wünschst. Aber bitte lass mich nicht allein in dieser Zeit. Bitte gib mir die Kraft, mich gegen mein Problem zu stellen. Bitte lass mich stark sein, damit ich
diese Prüfungen bestehe. Und bitte lass Jens schweigen, damit ich nicht noch mehr Schwierigkeiten bekomme.
St. Thomas, 2. Juni 1975
Er hat nichts gesagt. Aber es ist die Hölle. Ich hasse mich.
Im Wald, 5. Juni 1975
Es ist einen Monat her, dass ich allein draußen war. Dieses Mal ist es offiziell. Niemand wird mich bestrafen, dass ich mich an meinen Lieblingsplatz zurückgezogen habe. Ausgang ist
etwas Wunderbares. Dass ich ihn nutze, um unter dem Baum zu sitzen und zu heulen, ist eine andere Sache.
Ich bin am Ende. Ich kann spüren, dass ich mich auflöse.
Warum musste Jens auf unsere Schule kommen? Warum musste er alles, was vorher vage und unsicher war, in gnadenlose Gewissheit verwandeln? Er kann nichts dafür, dass er ist, wie er ist. Er
kann auch nichts dafür, dass es mich fertigmacht, wenn er mich von der Seite mustert und ich nicht weiß, was in seinem Kopf vor sich geht.
Jens bemüht sich, nett zu sein. Anscheinend hat er nicht begriffen, was mit mir los ist. Oder es ist ihm egal. Das wäre natürlich großartig.
Nein, nein, wäre es nicht! Denn es ändert nichts an meinem Problem.
Gestern hätte ich es fast gebeichtet. Ich war kurz davor, als mir der Beichtstuhl so eng vorkam, dass ich kaum reden konnte. Ich habe es nicht geschafft, es auszusprechen. Nicht, solange
Pater Ignatius hinter der dünnen Wand darauf lauert, dass ich ihm einen Grund gebe, mich durch die Mangel zu drehen.
Ich frage mich, ob ich jemals Frieden finden werde. Im Leben, meine ich. Die andere Art von Frieden, die man sich mit der Rasierklinge holt, meine ich nicht.
Es ist so schön hier. Es ist warm, nur das Blätterdach verhindert, dass es richtig heiß ist. Das Licht fällt durch die Baumkronen, Heerscharen von Bienen sind unterwegs, um
zur Wiese hinter dem Wald zu kommen. Es zwitschert und raschelt und knistert. Die Autos auf dem Zubringer zur Schule hört man von hier nicht. Es ist so ruhig, dass es mich nicht wundern
würde, wenn auf einmal ein Hirsch aus dem Dickicht käme.
Warum kann es nicht immer so sein? Ich möchte mich hier verkriechen, mir eine Hütte bauen und für immer im Wald bleiben.
Doch das bringt nichts. Ich kann vor Pater Ignatius und der Klosterschule weglaufen, aber nicht vor Gott. Er ist überall, er beobachtet mich, er prüft mich. Ihm kann ich nicht
entrinnen.
Mir ist eigentümlich zumute. Ich will mich im Gras wälzen und mich in den Boden graben. Ich will gegen die Bäume treten und Rinde von ihrem Stamm brechen. Ich will meinen Namen
ins Moos pinkeln. Ich will nicht mehr unsichtbar sein, mich nicht mehr verstecken müssen.
Nichts wünsche ich mir mehr, als wieder richtig zu sein. Oder war ich das nie? Wann ist man ich? Und wann ist man jemand anderes? Wann ist man richtig und ab wann ist man falsch? Ist da
eine scharfe Grenze oder eine weite Fläche, auf der man sich bewegen kann? Kann man ein bisschen falsch sein?
Ich möchte …
St. Thomas, 6. Juni 1975
Ich bin krank. Dieses Mal wirklich. Seit heute Nacht habe ich Fieber. Ich kann nicht denken. Ich kann nicht in den Unterricht gehen. Auch ohne Fieber nicht. Ich zittere. Mir rutscht fast der
Füller aus der Hand. Ich friere, obwohl ich drei Decken um mich gewickelt habe.
Die Schulschwester hat mir Bettruhe verordnet, aber sie hat komisch geguckt. Kein Wunder. Ich habe keinen Schnupfen, huste nicht und bin nicht erkältet. Ich habe einfach Fieber. Aus dem
Nichts. Ob ich Bauchschmerzen hätte, wollte sie wissen. Mir tut alles weh. Insofern: Ja, ich habe Bauchschmerzen. Brustschmerzen.
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