Kräuter-Code: Zehn Kurzgeschichten aus dem schwulen Leben (German Edition)
Kopfschmerzen. Herzschmerzen.
Es ist gestern passiert. Das Unnennbare.
Es ekelt mich an, dass sich etwas in mir freut. Und ich freue mich darüber, dass es mich ekelt, denn dann ist nicht alles verloren. Glaube ich.
Jens ist mir nachgelaufen. In den Wald. An der Stelle, an der mein Eintrag von gestern abbricht, tauchte er bei mir auf. Ich weiß nicht mehr, was er gesagt hat. Ich wollte ihn wegschicken.
Wie soll ich zur Ruhe kommen, wenn er mir nachläuft?
Er hat sich neben mich gesetzt. Erst mit Abstand, dann ganz dicht. Seine Bemerkungen waren seltsam. Trotzdem denke ich, dass ein Teil von mir verstanden hat. Ich wollte es nur nicht zugeben.
Er sah widerlich gut aus in seinen eng anliegenden Jeans mit dem Schlag. Sein T-Shirt war am Hals ein bisschen ausgerissen. Mir haben seine halblangen Haare besser gefallen als der Schnitt, den
er jetzt unfreiwillig hat. Dabei sind mir Haare egal. Oder?
Er hat mit mir geredet. Ich habe geantwortet und dabei gestottert. Auf einmal hat er sich zu mir gedreht und den Kopf geschüttelt und dabei gegrinst, als wüsste er etwas, was ich nicht
weiß.
Dann hat er mich geküsst; ganz schnell und hastig.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Mir war klar, dass es falsch und krank ist und dass ich dem nicht nachgeben darf. Ich weiß bis heute nicht, warum ich es getan habe.
Aber ja, ich habe es getan. Mich küssen lassen. Erst starr, dann habe ich Jens auch geküsst. Mehr und mehr. Und es hat sich so gut angefühlt. Ich konnte nicht denken und mir
sagen, dass es widernatürlich ist, was wir machen. Ich habe die Kontrolle verloren.
Er hat mich nach hinten gedrückt. Plötzlich war alles ganz leicht. Ich habe gelacht, glaube ich. Gelacht! Ihn festgehalten und mich mit ihm im Waldmeister gewälzt. Von jetzt an
werde ich nie wieder Waldmeister sehen können, ohne an ihn zu denken. Nicht mehr an Oma.
Irgendwann bin ich weggerannt. Ich lag gerade oben und sah ihn an, und er drängte sich an mich und wollte mir an die Hose gehen. Es war, als hätte mich jemand geohrfeigt. Weg, nur
weg!
Ich kann nicht aufhören zu zittern. Ich kann ihn immer noch schmecken. Und will es wieder tun.
Beim nächsten Mal werde ich es beichten und darauf vertrauen, dass man es mir austreiben kann. Aber Jens werde ich nicht verraten. Das kann ich nicht.
Ich muss aufhören zu weinen. Habe schon zwei Mal gekotzt. Ich wünsche mir so sehr, dass Jens kommt und mit mir abhaut.
St. Thomas, 9. Juni 1975
Sie wissen Bescheid. Jeder weiß Bescheid. Ich habe gebeichtet und mehr Bußen auferlegt bekommen als irgendein Mensch vor mir. Ich konnte an Pater Ignatius’ Stimme hören,
wie sehr ich ihn anwidere.
Bin ich gut davongekommen? Fühle ich mich besser? Nein.
Ich muss beten, Küchendienste schieben, die Toiletten putzen, die Offenbarung und andere Bibelstellen abschreiben, Psalmen auswendig lernen und noch mehr beten. Außerdem hat er mir
Verzicht auf meine Ausgänge verordnet.
Ich weiß nicht, was das ändern soll. Ich sollte mich besser fühlen, oder? Jesus ist für unsere Sünden gestorben, und man hat uns beigebracht, dass die Beichte uns von
allen Sünden reinwäscht. Aber ich glaube, einen anderen Jungen küssen ist nicht wie andere Sünden. Es ist der direkte Weg in die Verdammnis. Dagegen kann man nicht anbeten.
Ich habe Angst. Wenn ich in der Kapelle sitze und bete, warte ich darauf, eine donnernde Stimme zu hören, die mich vor die Tür setzt. Oder dass mich ein Blitz erschlägt.
Ob man meine Eltern informiert? Eigentlich dürfen sie das nicht. Doch vielleicht gilt das Beichtgeheimnis nicht, wenn man gemacht hat, was ich gemacht habe.
Ich habe so viel zu tun, dass ich kaum denken kann. Und ich denke trotzdem an Jens. Dauernd. Wie hält er das aus? Er sieht nicht aus, als wäre er schlecht gelaunt oder ängstlich.
Nur ein bisschen traurig schaut er, wenn wir uns begegnen.
St. Thomas, 16. Juni 1975
Wie kann es ihm so egal sein? Wie kann er so tun, als wäre es nicht schlimm? Wie kann er mich abfangen und in den Werkzeugschuppen ziehen?
Er war so lieb. Hat mich umarmt und gesagt, dass es okay ist. Dass sie nicht recht haben. Dass es gar nicht sein kann.
Ich habe mich wohl bei ihm gefühlt. Geschlagen habe ich ihn trotzdem. Seine Lippe ist aufgeplatzt.
Warum habe ich das getan? Ist es richtig, jemanden wie ihn zu schlagen, wenn er nicht loslassen will? Wie kann ich mich erst an ihn drücken und ihn dann wegstoßen?
Ich weiß es nicht! Ich weiß gar nichts! Ich wünschte nur, ich
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