Kräuter-Code: Zehn Kurzgeschichten aus dem schwulen Leben (German Edition)
ich es trockenhalten soll. Aber es ist mir zu gefährlich, es
weiterhin in meiner Zelle aufzubewahren.
Während ich schreibe, sitze ich im Gras. Mein Füller macht Flecken, mein Magen ist leer und mein Hintern ist nass vom Tau. Nichts ist wichtig. Nur atmen. Endlich einmal zur Ruhe
kommen.
Mir ist nach Heulen zumute.
Vielleicht ist die Hölle ganz anders, als wir sie uns vorstellen. Kein Fegefeuer mit Teufel, Lava und Dreizack, sondern das Leben, das man führen muss, wenn man falsche Wünsche
hegt. Denn ich gehe durch die Hölle. Jeden Tag.
Mein Klassenlehrer hat mich gestern beiseite genommen und gefragt, was mit mir los sei. Ich sähe krank aus.
Ich hätte fast gelacht. Ich bin krank, da hat er recht. Aber es ist keine Krankheit, die mit einem Löffel Lebertran zu heilen wäre. Es ist eine der Krankheiten, bei denen die
Leute einen Schritt rückwärts machen und angeekelt schauen.
Was hätte ich ihm sagen sollen? „Ich bin in einen meiner Mitschüler verliebt.“
Grandiose Idee.
Dabei weiß ich nicht, ob ich in Jens verliebt bin. Wenn er in meine Nähe kommt, weiche ich aus. Das fällt niemandem auf, weil ich sowieso nicht oft mit den anderen zusammen bin.
Ich weiß gar nichts über ihn. Nur, dass er den Unterricht nicht sehr ernst nimmt.
Das macht es nur noch schlimmer. Nicht Jens’ Charakter zieht mich an. Es ist keine Liebe und keine Freundschaft, die sich nur komisch anfühlt. Es ist Wollust. Ich möchte ihn
anfassen und will, dass er mich anfasst. Ich will ihn küssen und Unaussprechliches mit ihm tun.
Jedes Mal, wenn mir in den Sinn kommt, wie schlimm das ist, wird mir die Luft knapp.
Letzte Woche war ich auf dem Weg zu den Waschräumen, als es plötzlich nicht mehr vorwärts ging. Ich musste mich an der Wand festhalten, damit ich nicht umkippe. Alles hat sich
gedreht. Ich bekam keine Luft und dachte, mich hätte der Schlag getroffen.
Vielleicht ist alles ganz anders. Vielleicht bin ich wirklich krank. Ein Gehirntumor zum Beispiel. Dann sind die komischen Gefühle nur eine Nebenwirkung. Das wäre schön.
Ich möchte nach Hause. Oder im Wald bleiben.
Der Waldmeister ist inzwischen richtig hoch. Ich glaube, ich lege mir ein paar Blätter davon ins Tagebuch und trockne sie. Oder stecke ihn mir in die Tasche.
Ich wünschte, ich könnte mit Oma reden. Ich möchte mit ihr in der Kneipe sitzen und ihr dabei zusehen, wie sie alles für den Abend sauber macht. Ich bin nicht gut im Reden
und tue es lieber, wenn man mir nicht ins Gesicht schaut.
Ich verrenne mich, oder? Selbst sie fände mich furchtbar.
Lange halte ich es nicht mehr aus.
St. Thomas, 24. Mai 1975
Das Tagebuch im Wald zu lassen, war die dümmste Idee, die ich je hatte. Nach meinem letzten Ausflug habe ich es in meine Regenjacke gewickelt und in einen hohlen Baum geschoben. Was ist
passiert? Fürs Schwänzen habe ich riesigen Ärger bekommen, wurde tagelang streng im Auge behalten und konnte es nicht holen.
Ich bin ein Idiot.
Das Lügen fällt mir schwer. Nachher muss ich zur Beichte. Ich glaube, Pater Ignatius hat gemerkt, dass ich ihm etwas verheimliche. Ich muss mich zusammennehmen.
St. Thomas, 30. Mai 1975
Mir war noch nie in meinem Leben so schlecht wie gerade. Es ist etwas Grauenhaftes passiert. So grauenhaft, dass ich mich nicht traue, es aufzuschreiben.
Ich muss etwas tun. Bitte bitte, hilf mir. Irgendjemand. Ich kann morgen nicht zum Unterricht gehen. Ich kann nicht mit Jens in einem Raum sein.
Er hat es gesehen. Ich weiß, dass er es gesehen hat.
St. Thomas, 31. Mai 1975
Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Jetzt weniger als je zuvor. Ich schäme mich, ich schäme mich, ich schäme mich.
Um die Beichte komme ich nicht mehr herum. Um eine ehrliche Beichte. Sonst werde ich verrückt vor schlechtem Gewissen.
Ich sitze auf meinem Bett. Jeder Knochen tut mir weh, als würde ich bei lebendigem Leib verfaulen. Ich habe Angst. Wird Jens mich ans Messer liefern? Wenn ja, was bedeutet das für
mich?
In meiner linken Hand halte ich den Waldmeister. Er ist schlaff und riecht nicht, wie er riechen sollte. Eigentlich riecht er nur nach Papier und vielleicht ein bisschen nach Tinte. Er hilft mir
nicht, niemand hilft mir.
Geschlafen habe ich heute Nacht nicht. Keine Minute. Ich habe auf dem Rücken gelegen und gebetet, dass sich nichts regt. Natürlich hatte ich keine Chance. Immer, wenn ich in den
Halbschlaf glitt, kamen die Bilder. Das Gefühl an meiner Schulter. Die Wärme von Jens, der
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