Kräuter-Code: Zehn Kurzgeschichten aus dem schwulen Leben (German Edition)
Dreck. Spätestens jetzt wäre der Zeitpunkt, Verstärkung zu rufen. Das Prozedere in
diesem Punkt ist eindeutig. Wir müssen den Container filzen, und zwar komplett.
Ich werfe Romero einen Blick zu, den er nicht bemerkt. Er ist blass und schaut abwesend auf die Kartons, die sich vor dem Container türmen. Er kann sich auf ein saftiges Bußgeld
gefasst machen und auf eine Anzeige. Je nachdem, was wir noch im Container finden, kann ihn sein lächerlicher Schmuggelversuch mehrere Millionen Peso kosten. Geld, das er nicht besitzt.
Außerdem vermute ich, dass ihm seine Arbeitserlaubnis postwendend wieder entzogen wird. Seine Zukunft in Chile kann er sich von der Backe putzen.
Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen. Verdammte Scheiße. Dieser gottverdammte Idiot. Ein dummer Idiot, aber kein Verbrecher. Ich glaube nicht, dass er mich gerade anlügt. Er ist
sich der Tragweite meiner Entdeckung nicht bewusst, und hätte er Drogen eingeschmuggelt, hätte er schon längst Fersengeld gegeben oder wäre jetzt sehr viel nervöser. Nein,
Daniel Romero ist einfach nur dumm und naiv.
Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche. Ich muss Ricardo anrufen und auch Andrey. Jetzt.
Ich bemerke, dass Romero mich ansieht. Unsere Blicke begegnen sich. Grün, vermengt mit grau. Es regnet im Sommergarten. Ich denke nicht nach, obwohl ich vor lauter Gedanken nicht ein noch
aus weiß. Es ist nur ein Gefühl. Es wird immer stärker. Es stemmt sich gegen alles. Gegen mein Pflichtgefühl. Gegen meinen Ehrgeiz. Gegen meine Angst. Was ich gleich tun werde,
kann mich meinen Job kosten und mich in den Knast bringen.
Ich trete nah an ihn heran, so nah, dass ich seinen Atem im Gesicht spüren kann. Warm. Prüfend mustere ich ihn. Ich kann die Bitte in seinen Augen erkennen. Vielleicht ist er doch
nicht so naiv, wie ich dachte. Wohlmöglich hat er nur ein gutes Pokerface und manipuliert mich gekonnt. Mein Herz schlägt hart gegen meine Rippen. Adrenalin, seiner Nähe und meinem
Irrsinn geschuldet. Meine Lippen prickeln.
Nicht hier.
Das letzte Körnchen Verstand. Ich klammere mich daran fest, weiche vor ihm zurück. Seine Verunsicherung ist ihm ins Gesicht geschrieben. Großer Mann, so schwach. Ohne ein Wort
schließe ich den Karton, räume ihn an seinen Platz zurück. Meine Schultern schmerzen, als ich einen Karton mit Büchern darauf wuchte. Ich trage einen weiteren Karton hinein,
stelle ihn vor Nummer 47.
Auf einmal ist er hinter mir. Drei Schritte, der Stahlboden vibriert leicht.
„Warum tust du das?“, raunt er leise.
Ich kann Romeros Atem im Nacken spüren, drehe mich langsam um. Er ist mehr als einen halben Kopf größer als ich. Ich muss das Kinn heben, um ihm in die Augen zu blicken, wenn er
so nah bei mir ist. Sein Geruch vermengt sich mit dem von Staub und Karton. Ich hebe die Hand, grabe sie in den Kragen seines Shirts. Seine Lippen öffnen sich erstaunt, er möchte etwas
sagen, doch ich lasse es nicht zu. Ich küsse ihn. Wütend und grob. Er gibt einen erstickten Laut von sich, nun ist er es, der zurückweichen will. Ein kräftiger Ruck an seinem
Shirt, ein Knurren, meine andere Hand legt sich in seinen Nacken. Warm, etwas verschwitzt. Ich suche seinen Haaransatz, kralle mich hinein.
Hunger, der zu Gier wird. Hunger, der alles beherrscht. Hunger, zu lange eingesperrt, er bricht frei, am falschen Ort, zur falschen Zeit.
Hier. Jetzt.
Als Jugendlicher war ich einige Male bei illegalen Hundekämpfen. Gemeinsam mit Nahuel und seinem älteren Bruder Marcelo. Ich habe mich gefürchtet. Es war laut. Die schreienden
Männer, das Bellen und Knurren der Hunde, das durchdringende Jaulen des Verlierers, wenn der kräftige Kiefer des Gewinners zuschnappt, reißt und zerrt. Und obwohl ich Angst hatte,
bin ich immer wieder hingegangen. Konnte die Augen nicht schließen.
Auch jetzt kann ich es nicht. Denn dies hier ist mehr ein Kampf als ein Kuss. Romero ist zum Angriff übergegangen, drängt sich gegen mich. Eine Hand in meinem Kreuz, die andere an
meinem Hinterkopf, unnachgiebig. Wie zwei wütende Hunde ineinander verbissen.
Wir atmen heftig, als wir uns voneinander lösen. Es fällt mir schwer. Ich bin hart. Ich brauche Reibung. Gewicht. Geschmack. Übervoll. Salzig und warm. Einsaugen, trinken,
reißen, verschlingen.
Mein Hunger muss mir ins Gesicht geschrieben sein, denn er schenkt mir ein raubtierhaftes Lächeln. Dann wendet er sich ab, geht zum Eingang des Containers. Die harte Grenze zwischen Licht
und Schatten
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