Kräuterkunde
verlassen hatte. Kein einziges Schaf war mehr zu sehen. Der Hund, über den er sich nun ärgerte, war auch fort. Ob Wölfe die Schafe gerissen hatten? Aber nein, es gab keine Spur, die das andeutete.
Also ging er allein ins Dorf zurück. Auch da schien alles merkwürdig verändert, alles sah anders aus als am Morgen. Als er die Tür aufmachte und in die Hütte trat, erschrak seine Frau heftig. Nachdem sie sich wieder gefaßt hatte, sagte sie: »Ein ganzes Jahr haben wir deinen Tod beweint! Ein Jahr und ein Tag sind vergangen, seit der Hund spät in der Nacht ohne dich heimkehrte!«
Der verwirrte Hirte holte die Blume aus seinem Ranzen. Sie war inzwischen verblüht und versamt. »Wenn ich auch nichts anderes habe, so will ich wenigstens diese Samen aussäen«, dachte er sich und streute sie ins Gartenbeet. Am nächsten Morgen war der Garten voller blauer Blumen. Da erschien die Fee noch einmal und erklärte: »Diese blauen Blumen sind nicht nur schön, sie sind auch nützlich. Es ist Flachs, und er wird Euch und dem ganzen Land Wohlstand bringen.« Sie erklärte ihnen, wie man die Pflanzen im Zeichen des Widders aussät, wie man sie erntet und die ölhaltigen Samen riffelt, wie man die langen Stengel röstet, bricht, schwingt, hechelt, zu Fäden spinnt und schließlich zu feinem Leintuch verwebt. Von nun an spann die Frau nicht nur Wolle, sondern auch Flachs, und ihr Mann machte sich am Webstuhl zu schaffen.
Es gibt viele Märchen wie dieses aus Transsylvanien, die erklären, wie die Menschen zu den Heil- oder Nutzpflanzen gekommen sind. Nicht kühl experimentierende, forschende Wissenschaftler waren es, die den Heil- oder Nährwert der Pflanze entdeckten, sondern Visionäre.
Schauen wir uns das Märchen noch einmal näher an. Der Entdecker der kostbaren Nutzpflanze ist ein Hirte. Hirten waren immer und überall bekannt für ihre ausgeprägten Pflanzenkenntnisse. In ganz Europa hieß es, wenn das Vieh erkrankt und der Tierarzt nicht weiter weiß, soll man den Hirten holen, denn dieser wisse immer das rechte Heilkraut. In einer Zeit, in der es weder die Schulpflicht noch Transistorradios oder Walkmen gab, hatten die Hirten keinen anderen Zeitvertreib als das tiefe Hineinsinnen in das frische Grün der sie umgebenden Landschaft. Sie waren natürliche Mystiker und Meditanten. Keine unnötige Information, keine Überflutung der Unterhaltungs- und Wissensindustrie verbaute ihnen den unmittelbaren Zugang zur Natur. Tagein, tagaus saßen sie bei ihrer Herde, beobachteten die weidenden Tiere, das Wiegen der Bäume im Wind, rochen den Duft der Kräuter und Wiesenblumen, lauschten den Vögeln, nahmen den Wechsel der Jahreszeiten wahr. Mehr noch als die von morgens bis abends schwer arbeitenden Gärtner und Bauern tauchten sie in das Mysterium, in die flutende Geistigkeit der Natur ein. Zuweilen wird der Hirte, auch wenn er sich dessen kaum bewußt ist, so sehr Teil seiner weidenden Tiere, daß seine Seele mit der Herdenseele verschmilzt. Er befindet sich in mystischer Partizipation mit den Rindern und Schafen, so daß sie seinen Geist mitnehmen, wenn sie Berg- oder Heidekräuter erschnuppern, schmecken, genüßlich widerkäuen und beim Verdauen die kosmischen Geheimnisse entschlüsseln, die die Pflanzen von den Sternen und Planeten empfangen haben. Auf diese Weise sammelt der Hirte einen Schatz an intuitivem Wissen über die Kräfte der Kräuter an.
Das Wissen um Pflanzen wird in höheren, geistigen Gefilden erworben. Der wahre Pflanzenkenner muß ein Meditant sein. In Indien ist es selbstverständlich, daß der Kräuterheiler zugleich ein Yogi, ein Meister der Versenkung, ist. Unser Schafhirte steigt hinauf in die blauen, schimmernden Berge – das Bergsteigen ist eine oft benutzte Metapher für die Schamanistische Jenseitsreise. Aber er geht nicht einfach auf »Trip« und vernachlässigt seine alltäglichen Pflichten, vielmehr überläßt er sie seinem treuen, wohldisziplinierten Hund, der sozusagen das niedere, alltägliche Ich darstellt. Oben im blauen Äther – dort, wo die Götter wandeln, in der fernen Saturnsphäre – begegnet er dem Deva der Pflanze. Dieser Pflanzenengel zeigt sich ihm in einer ansprechbaren, wunderschönen Gestalt. Das Gold und die Edelsteine, die ihm der Deva anbietet, stellen eine letzte Versuchung dar. Aber da der Wanderer eine reine Seele hat, verlangt es ihn nicht nach unverdientem Reichtum. Er begnügt sich mit dem Wesentlichen, mit der blauen Blume.
Wie weit sich der Hirte dieses
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