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Kräuterkunde

Kräuterkunde

Titel: Kräuterkunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf-Dieter Storl
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Märchens in die »Anderswelt« hinausgewagt hat, wird deutlich in der Aussage, daß er, ohne es zu merken, ein ganzes Jahr entschwunden war. In der jenseitigen Welt, der Welt der Pflanzendevas, läuft die Zeit anders. Sie grenzt an die Ewigkeit und läßt sich nicht nach irdischen Maßstäben messen.
    Ein Märchen der Ojibwa erzählt, wie der Mais zu den Menschen kam. Auch diese Geschichte sagt etwas über den Umgang mit den Pflanzendevas aus. Um Sinn und Aufgabe ihres Lebens zu erfahren, um ihre Kräfte und geistigen Helfer kennenzulernen, gehen die jungen Indianer in die Wildnis auf Visionssuche. Vier, manchmal bis zu sieben Tage verbringen sie allein und nackt tief im Wald oder auf einem Berg. Um sich zu weihen, beräuchern sie ihren Körper mit Süßgras und Beifuß. Manchmal machen sie ein kleines Feuer, um Raubtiere fernzuhalten. Und dann warten sie, ohne zu essen, zu trinken oder zu schlafen, bis sich ein göttliches Wesen ihrer erbarmt, ihnen eine Vision zukommen läßt und ihnen ihre »Medizin« (Kraft) gibt.
    Ein junger Indianer namens Wunkh ging auf Visionssuche. Er wollte die Geister nicht bitten, ein großer Krieger, Sprecher oder erfolgreicher Jäger zu werden. Sein Wunsch war es, die Pflanzen kennenzulernen. Er wollte wissen, welche heilen und welche giftig sind. Vor allem aber wünschte er zu erfahren, welche Pflanzen eßbar sind, denn oft, im Spätwinter und im Frühling, waren die Vorräte aufgebraucht, und sein Volk mußte Hunger leiden. In den ersten zwei Tagen des Fastens in der Wildnis wanderte er umher und betrachtete die Gewächse, um sich auf das »grüne Volk« einzustimmen. Am dritten Tag war er jedoch zu schwach und legte sich auf sein Laublager. Plötzlich erschien ein junger Mann an seinem Lager. Er war schlank und kräftig gebaut, ganz in Grün und Gelb gekleidet und hatte eine gelbe Mähne.
    »Ich bin Mondamin. Der große Geist hat mich zu dir gesandt. Er hat gesehen, daß dein Herz rein ist und wird dir deinen Wunsch erfüllen. Ich bin dein Lehrmeister. Aber zuerst muß ich prüfen, ob du auch Mut und Ausdauer hast. Du mußt mit mir ringen!«
    Wunkh war zwar matt vom strengen Fasten, aber er gab sich einen Ruck und sprang auf, obwohl ihm die Knie zitterten. Stundenlang rangen sie, als ginge es um Leben und Tod. Am Abend verschwand der goldmähnige Fremde, und Wunkh sank erschöpft, zerschunden und an verschiedenen Stellen blutend zu Boden.
    Am nächsten Tag kam Mondamin wieder. Wieder mußte Wunkh mit ihm kämpfen, obwohl er todmüde war. Am folgenden Tag war es dasselbe. Bevor er diesmal am Abend verschwand, sagte der Fremde zu Wunkh: »Morgen wird dein Vater kommen und dir eine Suppe zur Stärkung bringen. Nimm sie nicht an. Noch einmal komme ich, dann mußt du mich bezwingen und töten. Du mußt mich entkleiden und in der Erde begraben. Besuche mein Grab des öfteren, singe das Medizinlied, das ich dir gebe, laß kein Gras auf dem Grabhügel wachsen und sieh, wie ich im Herbst wieder auferstehe.«
    Wunkh wollte ihn eigentlich nicht töten, aber beim letzten Ringkampf fiel Mondamin tot zu Boden. Aus dem Grab wuchs eine seltsame, noch nie gesehene Pflanze empor. Sie hatte genau die Farbe von Mondamins Kleidern. Als sie mannshoch war, wuchs oben ein Kolben mit einem Büschel darauf, der ganz so aussah wie Mondamins heller Haarschopf. Ein eher mißtrauischer alter Medizinmann untersuchte die seltsame Pflanze, schälte den Kolben und fand große, gelbe Körner darin. Als er diese vorsichtig kostete, merkte er, daß sie süß und bekömmlich waren. So kam der Mais, den die Ojibwa
Mondamin
(Wunderpflanze) nennen, zu den Menschen.
    In dieser Erzählung ist es der Pflanzendeva, der aus Mitleid mit den Menschen dem Sucher entgegenkommt. Dennoch müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß das Erlernen der Geheimnisse der Pflanzen kein Sonntagsspaziergang ist. Es ist ein Ringen, das von dem Suchenden viel Kraft und auch moralische Stärke erfordert. Es gleicht dem Ringen Abrahams mit dem Engel. Die Himmlischen geben ihre Geheimnisse nicht ohne weiteres preis.
    Die Pflanzendevas opfern sich in die materielle Schöpfung hinein. Auch das kommt in dieser Geschichte zum Ausdruck. Sie geben sich, damit wir Menschen und auch die Tiere leben können. Die Devas existieren leiblich als grüne, wachsende Pflanzen hier auf der Erde, sind aber zugleich physisch ungebundene Geistwesen in der »Anderswelt«, die uns in Trance, in der Vision, im Traum und auf der Schamanistischen Reise begegnen können.
    Mit den

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