Kräuterkunde
Devas zu sprechen, wirklich pflanzenkundig zu werden, bedeutet, Zugang zur Jenseitswelt, zur Devawelt zu bekommen. Das ist nicht einfach, denn schließlich liegt diese verborgene Dimension des Seins am anderen Ufer des Totenflusses Styx, hinter den sieben Bergen, jenseits des von schrecklichen Sphinxen behüteten Tores. Auf so eine Reise muß man karmisch vorbereitet worden sein. Es ist ein langer Weg, der sich über mehrere Inkarnationen erstreckt. Es ist eine Begabung, die einem die Götter und Schicksalsmütter in die Wiege gelegt haben. Daß diese Begabung vorhanden ist, zeigt sich zunächst in vagen Ahnungen oder auch in einem unerklärlichen Interesse an Pflanzen und ihren Heilkräften. Diese Ahnungen, unterstützt durch Träume und eigenartige »Zufälle«, gipfeln oft in einem Gefühl des Berufenseins. Meistens widerstreben Schamanen ihrer Berufung, denn Heiler und Botschafter der Jenseitswelt zu sein, ist mühevoll.
Wer dazu berufen ist, den drängen die Ahnen und Götter. Oft schicken sie eine Krankheit, die nur durch das Schamanisieren geheilt werden kann. Schließlich kann der Berufene nicht anders, als dem Ruf zu folgen.
Die ersten Schritte
In jedem, der dieses Buch liest, schlummert vermutlich schon etwas von dieser Begabung, wenn nicht gar Berufung, denn sonst würden diese Zeilen sein Interesse gar nicht wecken.
Interesse
ist der Schlüssel, der Leitfaden! Interesse bedeutet dem Wortursprung nach, sich ganz im Wesentlichen zu befinden (lat.
intra
= innerhalb,
esse
= sein, Wesen). Zweitens muß man die Pflanzen lieben, denn – das sagt eine alte Weisheit – nur was man liebt, kann man wirklich verstehen.
Diese von Interesse und Liebe getragene Begabung muß jedoch erst ausgebildet werden. Einst war es so: Wer sich zur Kräuterkunde berufen fühlte, suchte sich erfahrene Kräuterkenner, Wurzelmütter oder Wurzelseppen, um von ihnen zu lernen. Das Lernen war aber kein Botanikstudium, wie es an den Hochschulen betrieben wird, wo man nur den materiellen Aspekt, das Wäg- und Meßbare der Flora erfahren kann. Nicht nur Kopfdenken, sondern auch Herzenswissen wurde vermittelt. Der Schüler wanderte mit den Kräuterkennern durch die Wiesen und Wälder. Selten wurde dabei gesprochen, denn die Stille des Herzens ist wichtig, um die Sprache der Pflanzen zu verstehen. Der Lernende half mit, die Wurzeln zur rechten Zeit zu graben, die Kräuterbündel zu bereiten, die Heilmittel herzustellen, und wenn etwas zur Sprache kam, dann waren es vor allem die in kurze Reime gefaßten Sammelregeln oder die über lieferten Sprüche, mit denen man die Pflanzen ansprach.
Einbeere, wer hat dich gepflanzt?
Unsere Frau mit ihren fünf Fingern!
Durch alle ihre Macht und Kraft
Hat sie dich hierher gebracht
,
Daß ich werde gesund!
Zeig nun, liebes Kräutlein
,
die Kraft, die Gott dir gegeben hat!
Viele solche Sprüche und Sammelregeln gab es, in denen ein Wissen um die Geistigkeit der Pflanze und ihr Eingebettetsein im Kosmos zum Ausdruck kommt. Aber wo sind die Wissenden heutzutage? Die Kirche, auf das spirituelle Monopol bedacht, führte einen Vernichtungskampf gegen jene, die noch etwas von der makrokosmischen Spiritualität der Natur wußten. Die eifrigen Schulmeisterlein der Aufklärung taten das Ihrige. Was übrigblieb, ist meist dekadenter Aberglaube, obwohl – von den Gelehrten meist unbemerkt – manch altes Rezept von den Großmüttern an die Enkeltöchter weitergegeben wurde. Aber im Zeitalter der Pharmakologie und Industriemedizin reißt der rote Faden der Überlieferung immer mehr. Also sind nun einzig die indianischen Medizinmänner, die nepalesischen Jhankries und andere endogene Meister der Pflanzenkunde unsere Lehrmeister. Sie können uns helfen, den Faden wieder zu knüpfen. Doch das ist schwierig über die kulturellen Barrieren hinweg. Zudem ist es meistens nicht die Flora unserer heimatlichen Wiesen, Wälder und Felder, mit der sie sich auskennen; ihre Rituale und die Geistwesen, mit denen sie verkehren, sind nicht die, mit denen unsere Ahnen vertraut waren. Dennoch können sie wertvolle Hinweise geben, die wir dankbar annehmen. Leider geraten auch diese Kulturen unter die Räder des Welthandels und Neokolonialismus, und so geht auch ihr Wissen allmählich verloren. In den Stammesgesellschaften finden sich kaum noch junge Leute, die dafür zu haben sind. Das Motorrad, der Kassettenrekorder und andere westliche Zauberinstrumente sind interessanter für sie. Islam, Christentum oder andere
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