Kraft des Bösen
hörte sie auf zu sprechen. Ihr Gesicht wurde wieder ausdruckslos. Sie sagte, mehr zu erzählen wäre ihr nicht gestattet.«
»War sie immer noch unter Hypnose?« fragte Saul.
Gentry antwortete. »Sie war noch unter Hypnose«, sagte er, »aber sie konnte nicht beschreiben, was als nächstes geschehen war. Dr. Calhoun hat verschiedene Möglichkeiten durchgespielt, ihr zu helfen. Sie sah weiter ins Leere und wiederholte, es wäre ihr nicht gestattet, mehr zu sagen.«
»Und das war alles?« fragte Saul.
»Nicht ganz«, sagte Natalie. Sie sah hinaus auf die vom Regen reingewaschene Straße, dann wieder zu Saul. Ihre vollen Lippen waren nervös angespannt. »Dann sagte Dr. Calhoun: >Du gehst jetzt in das Haus jenseits des Hofes. Sag uns, wer du bist.< Und Alicia zögerte keinen Augenblick. Sie sagte - mit einer völlig anderen Stimme, alt, brüchig -: >Ich bin Melanie Fuller.<«
Saul richtete sich kerzengerade auf. Seine Haut kribbelte, als hätte jemand mit Eisesfingern über seinen Rücken gestrichen.
»Und dann fragte Dr. Calhoun sie, ob sie - Melanie Fuller - uns etwas sagen könne«, fuhr Natalie fort. »Und das Gesicht der kleinen Alicia veränderte sich - es waberte irgendwie, die Haut ließ Falten erkennen, die eine Sekunde vorher noch nicht dagewesen waren - und sie sagte mit derselben obszönen, brüchigen Altjungfernstimme: >Ich komme, Nina.< Diesen Satz wiederholte sie einfach, jedesmal lauter: >Ich komme, Nina<, bis sie ihn kreischte.«
»Großer Gott«, sagte Saul.
»Dr. Calhoun war völlig erschüttert«, sagte Natalie. »Er beruhigte das Mädchen, weckte sie und sagte ihr, sie würde erfrischt und glücklich sein, wenn sie aufwachte. War sie aber nicht . glücklich meine ich. Als sie aus der Trance erwachte, fing sie an zu weinen und sagte, daß ihr der Arm weh täte. Ihre Mutter sagte, es wäre das erste Mal, daß sie sich über Schmerzen im Arm beschwerte, seit sie in der Nacht der Morde gefunden worden war.«
»Was haben ihre Eltern denn von der Sitzung mit Dr. Calhoun gehalten?« fragte Saul.
»Sie waren aus dem Häuschen«, sagte Natalie. »Alicias Mutter wollte das Beobachtungszimmer verlassen und zu dem Mädchen gehen, als es zu schreien anfing. Aber als es vorbei war, schienen sie sehr erleichtert zu sein. Alicias Vater sagte Calhoun, selbst die Schmerzen im Arm und die Tränen wären eine Verbesserung gegenüber der Leere, die sie die ganze letzte Woche erlebt hatten.«
»Und Dr. Calhoun?« fragte Saul.
Gentry legte einen Arm auf die Sitzlehne. »Doc hat gesagt, es sieht nach einem Fall von >Trauma-induzierter Transferenz< aus«, sagte er. »Er empfiehlt, daß sie zu einem hauptberuflichen Psychiater gehen - einem Mann aus Savannah, den Doc kennt -, der sich auf Kinder spezialisiert hat. Es wurde viel darüber geredet, wieviel davon die Krankenversicherung der Kaisers übernimmt.«
Saul nickte, worauf die drei einen Moment schweigend dasaßen. Draußen brach das abendliche Sonnenlicht durch die Wolken und beleuchtete Bäume, Gras und feuchtes, juwelenglitzerndes Grün. Saul atmete den Duft von frisch gemähtem Gras ein und versuchte zu bedenken, daß es Dezember war. Er fühlte sich losgelöst von Raum und Zeit, in Strömungen gefangen, die ihn immer weiter und weiter von jedem bekannten Ufer fortspülten.
»Ich würde vorschlagen, wir gehen früh zu Abend essen und unterhalten uns über alles«, schlug Gentry plötzlich vor. »Professor, Sie fliegen morgen früh nach Washington?«
»Ja«, sagte Saul.
»Na also, dann gehen wir«, sagte Gentry. »Das Abendessen geht auf Kosten des County.«
Sie aßen in einem vorzüglichen Fischrestaurant in der Broad Street im Altstadtviertel. Eine Menge Leute standen Schlange, aber als der Geschäftsführer Gentry sah, winkte er sie ins Nebenzimmer an einen freien Tisch, der wie herbeigezaubert auftauchte. Es war überfüllt in dem Raum, daher unterhielten sich die drei über Belanglosigkeiten wie das Wetter in New York, das Wetter in Charleston, Fotografie, die Krise um die Geiseln im Iran, die Politik des Charleston County, die Politik von New York und die amerikanische Politik. Keiner schien besonders glücklich über den Ausgang der gerade zurückliegenden Wahlen. Nach dem Kaffee gingen sie zu Gentrys Auto zurück, holten Pullover und Regenmäntel und schlenderten an der Battery- Mauer entlang.
Die Nacht war kühl und klar. Die letzten Wolken hatten sich verzogen, die winterlichen Sternbilder konnte man durch den Glanz der Großstadtlichter
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