Kraft des Bösen
- das Gefühl, als wäre er in einer Sackgasse gelandet, ein plötzliches Gefühl des Vertrauens gegenüber diesen beiden ungleichen Verbündeten nach jahrelangem Argwohn, und zuletzt das simple Bedürfnis, seine Geschichte zu erzählen.
Saul schüttelte den Kopf. Intellektuell wußte er, daß es ein Fehler war, aber emotional hatte das Erzähl en-und-nochmals- Erzählen eine ungeheure therapeutische Wirkung gehabt. Die Gewißheit, daß er Verbündete hatte, daß andere tatsächlich aktiv in die Sache verwickelt waren, gestattete Saul, gelassen in Gentrys County-Streifenwagen zu sitzen und getrost zu warten.
Saul war müde. Er wußte, diese Müdigkeit war nicht nur auf Schlafmangel und die Nachwirkungen von zuviel Adrenalin zurückzuführen; es war eine schmerzhafte Erschöpfung, so quälend wie Blutergüsse und so alt wie Chelmno. Er verspürte eine Erschöpfung in sich, die so beständig war wie die Tätowierung auf seinem Arm. Diese schmerzliche Erschöpfung würde er wie die Tätowierung mit ins Grab nehmen und sich in eine Ewigkeit dieser Empfindung fügen. Saul schüttelte wieder den Kopf, nahm die Brille ab und rieb sich den Nasenrücken. Hör auf, alter Mann, dachte er. Weltschmerz ist ein langweiliger Zustand. Für einen selbst noch langweiliger als für andere. Er dachte an Davids Bauernhof in Israel, an seine eigenen neun Morgen weitab der Haine und Felder, an ein Picknick, das er und David und Rebecca kurz vor seiner Abreise nach Amerika gemacht hatten. Aaron und Isaac, Rebeccas Zwillinge, in diesem Sommer gerade erst sieben, hatten zwischen den Steinen und Rinnen, wo römische Legionäre einstmals jüdische Krieger gejagt hatten, Cowboy und Indianer gespielt.
Aaron, dachte Saul. Er wollte sich nach wie vor am Samstagnachmittag mit dem Jungen in Washington treffen. Saul spürte sofort, wie sich sein Magen verkrampfte, als er daran dachte, daß noch jemand unnötigerweise in diesen Alptraum mit hineingezogen wurde. Dieses Mal noch ein Familienmitglied. Wieviel hat er herausgefunden? überlegte Saul. Wie kann ich seine Verstrickung ungeschehen machen?
Das Paar und das Kind kamen aus der Klinik heraus; der Arzt folgte, schüttelte dem Mann die Hand, und die Familie fuhr weg. Saul stellte fest, daß es aufgehört hatte zu regnen. Gentry und Natalie Preston kamen heraus, unterhielten sich kurz mit dem alten Doktor und kamen forsch auf das Auto zugeschritten.
»Und?« fragte Saul, als der schwergewichtige Sheriff sich hinter das Lenkrad und die junge Frau sich auf den Rücksitz gesetzt hatten.
Gentry nahm den Hut ab und wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn. Er kurbelte das Fenster ganz hinunter, und Saul konnte den Geruch von feuchtem Gras und Mimosen im Wind wahrnehmen. Gentry sah Natalie wieder an, »Warum sagen Sie es ihm nicht?«
Natalie holte tief Luft und nickte. Sie sah erschüttert und beunruhigt aus, aber ihre Stimme klang forsch und fest. »In Doktor Calhouns Praxis gibt es ein kleines Beobachtungszimmer neben dem Sprechzimmer«, sagte sie. »Mit einem Spionspiegel. Alicias Eltern und wir konnten zusehen, ohne zu stören. Sheriff Gentry hat mich als seine Assistentin vorgestellt.«
»Was zumindest im Zusammenhang mit dieser Ermittlung rein technisch korrekt ist«, sagte Gentry. »Ich bin nur befugt, Leute im Fall eines erklärten Notstands im County zu Hilfssheriffs zu machen, sonst wären Sie jetzt Deputy Preston.«
Natalie lächelte. »Alicias Eltern hatten keine Einwände gegen unsere Anwesenheit. Dr. Calhoun hat ein kleines Gerät namens Metronom mit einem Licht benützt, um das Mädchen zu hypnotisieren .«
»Ja, ja«, sagte Saul und bemühte sich, seine plötzliche Ungeduld im Zaum zu halten, »was hat das Kind gesagt?«
Natalies Blick verschwamm ein wenig, als sie sich an die Szene erinnerte. »Der Doktor ließ sie sich an den Tag erinnern ... letzten Samstag ... in allen Einzelheiten. Alicias Gesicht war emotionslos, gefaßt, fast schlaff gewesen, als sie hereingekommen war, vor der Hypnose. Dann strahlte sie, wurde aufgeregt. Sie redete mit ihrer Freundin Kathleen - dem Mädchen, das getötet wurde.«
»Ja«, sagte Saul dieses Mal ohne Ungeduld.
»Sie und Kathleen spielten in Mrs. Hodges’ Wohnzimmer. Kathleens Schwester Debra war im Nebenzimmer und sah fern. Plötzlich ließ Kathleen die Barbiepuppe fallen, mit der sie gespielt hatte, und lief hinaus . über den Hof zum Haus von Mrs. Fuller. Alicia rief ihr nach ... stand rufend im Hof ...« Natalie erschauerte. »Dann
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