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Kraft des Bösen

Kraft des Bösen

Titel: Kraft des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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gefahren werden können. Ich stellte die Sitzlehne so weit wie möglich zurück und machte die Augen zu. »Würdest du mich bitte wecken, wenn wir in Arlington sind, Vincent?«
    Er grunzte. Ich hatte meine Handtasche zwischen die beiden Vordersitze gestellt und wußte, daß Vincent sie ansah. Er hatte den Blick nicht rasch genug abwenden können, als ich das dicke Bündel Geldscheine herausgeholt hatte, um das Frühstück zu bezahlen. Mit meinem Nickerchen ging ich ein Risiko ein, aber ich war sehr müde. Ein Mittelwellensender in Washington spielte ein Bach-Konzert. Das Summen der Reifen und das sanfte Brausen des Verkehrs wiegten mich binnen nicht einmal einer Minute in den Schlaf.
    Die Abwesenheit von Bewegung weckte mich. Ich war augenblicklich hellwach - wie ein Raubtier erwacht, wenn sich seine Beute nähert.
    Wir parkten vor einer im Bau befindlichen Raststätte. Der abenteuerliche Winkel des Wintersonnenscheins deutete darauf hin, daß ich etwa eine Stunde geschlafen hatte. Der dichte Verkehr sprach dafür, daß wir in der Nähe von Washington waren. Das Klappmesser in Vincents Hand sprach von finsteren Vorhaben. Er hatte meine Travellerschecks gezählt und sah auf. Ich erwiderte seinen Blick gleichgültig.
    »Sie müssen die unterschreiben«, flüsterte er.
    Ich sah ihn nur an.
    »Sie müssen mir die Scheißdinger unterschreiben«, zischte mein Anhalter. Das Haar fiel ihm in die Augen, er strich es weg. »Sie müssen sie jetzt unterschreiben.«
    »Nein.«
    Vincents Augen wurden groß vor Überraschung. Speichel befeuchtete seine dünnen Lippen. Ich glaube, er hätte mich auf der Stelle umgebracht, im hellen Tageslicht, während zwanzig Meter entfernt dichter Verkehr vorbeiströmte und er den Leichnam einer alten Dame bestenfalls im Potomac hätte verschwinden lassen können, aber - das war selbst dem geistig minderbemittelten Vincent klar - er brauchte meine Unterschrift auf den Schecks.
    »Hör zu, alte Fotze«, sagte er und packte die Vorderseite meines Hosenanzugs, »du unterschreibst jetzt diese Scheißschecks oder ich schneide dir die Scheißnase aus dem Scheißgesicht. Hast du mich verstanden, Fotze?« Er hielt mir die Edelstahlklinge Zentimeter vor die Augen.
    Ich betrachtete die schmutzige Hand, die das Oberteil des Hosenanzugs hielt, und seufzte. Sekundenbruchteile mußte ich daran denken, wie ich vor drei Jahrzehnten in einem anderen Land, einer anderen Welt, meine Hotelsuite betrat und einen kahlen, aber hübschen Mann im Abendanzug fand, der meine Schmuckschatulle durchstöberte. Dieser Dieb hatte ironisch gelächelt und sich knapp verbeugt, als ich ihn ertappt hatte. Diese Anmut, das mühelose >Benützen< und die stumme Wirksamkeit, die keine noch so ausgeprägte Konditionierung bewerkstelligen konnten, würde mir fehlen.
    »Komm schon«, zischte mich der schmutzige Jugendliche an, der mich gepackt hielt. Er bewegte die Klinge auf meine Wange zu. »Scheiße, du willst es nicht anders«, sagte Vincent Ein Funkeln stand in seinen Augen, das nichts mit dem Geld zu tun hatte.
    »Ja«, sagte ich. Sein Arm erstarrte in der Bewegung. Einige Sekunden kämpfte er, bis die Adern auf seiner Stirn hervortraten. Er verzog das Gesicht und riß die Augen auf, als er die Hand neigte, drehte und das Messer auf sein eigenes Gesicht zubewegte.
    »Zeit anzufangen«, sagte ich leise.
    Die rasiermesserscharfe Klinge neigte sich, bis sie vertikal lag. Sie glitt zwischen die dünnen Lippen, zwischen die gelben, abgebrochenen Vorderzähne.
    »Zeit zu lehren«, sagte ich leise.
    Die Klinge glitt weiter hinein und schnitt in Zahnfleisch und Zunge. Die Lippen wurden zurückgezogen, dann schlossen sie sich über Stahl. Die Klinge wurde feucht von Blut, als die Spitze sich in den weichen Gaumen bohrte.
    »Zeit zu lernen.« Ich lächelte, dann begannen wir unsere erste Lektion.
     

15. Kapitel
     
    Washington, D.C.: Samstag, 20. Dezember 1980
     
    Saul Laski stand zwanzig Minuten reglos da und betrachtete das Mädchen. Sie erwiderte den Blick, ohne zu blinzeln, gleichermaßen reglos, erstarrt in der Zeit. Sie trug einen Strohhut, leicht auf dem Kopf zurückgeschoben, sowie eine graue Schürze über einem schlichten weißen Kleid. Ihr Haar war blond, die Augen blau. Die Hände hatte sie vor sich gefaltet, die Arme in der linkischen Anmut der Kindheit von sich gestreckt.
    Jemand trat zwischen ihn und das Gemälde, worauf Saul rückwärts und zur Seite auswich, damit er besser sehen konnte. Das Mädchen mit dem Strohhut sah

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