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Kraft des Bösen

Kraft des Bösen

Titel: Kraft des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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weiterhin auf die Stelle, die er gerade verlassen hatte. Saul wußte nicht, warum ihn dieses Bild so sehr rührte; die meisten Arbeiten von Marie Cassat waren ihm zu sentimental mit ihren sanften, verschleierten Pastellfarben, aber dieses Bild hatte ihn zu Tränen gerührt, als er die National Gallery vor mehr als zwei Jahrzehnten zum ersten Mal besucht hatte, und heute war keine Reise nach Washington mehr vollständig ohne einen Ausflug zum Mädchen mit Strohhut. Er dachte sich, daß ihn das pummelige Gesicht und der sehnsüchtige Blick an seine Schwester Stefa erinnerten - die während des Krieges an Typhus gestorben war -, obwohl Stefas Haar viel dunkler und ihre Augen alles andere als blau gewesen waren.
    Saul wandte sich von dem Gemälde ab. Jedesmal, wenn er das Museum besuchte, nahm er sich vor, er würde neue Abteilungen erforschen, mehr Zeit auf die modernen Arbeiten verwenden, und jedesmal verbrachte er zuviel Zeit hier bei dem Mädchen. Nächstes Mal, dachte er.
    Es war nach ein Uhr mittags, die Menge im Restaurant der Galerie verzog sich allmählich, als Saul den Eingang erreichte und den Blick über die Tische schweifen ließ. Er sah Aaron sofort, der an einem kleinen Tisch in der Ecke saß, den Rücken einer hohen Topfpflanze zugekehrt. Saul winkte und gesellte sich zu dem jungen Mann.
    »Hallo, Onkel Saul.«
    »Hallo, Aaron.«
    Sein Neffe stand auf und umarmte Saul. Saul grinste, hielt den Jungen an den Armen und sah ihn an. Kein Junge mehr. Im März würde Aaron sechsundzwanzig werden. Vielleicht kein Junge mehr, aber immer noch dünn, und Saul sah Davids Lächeln, die nach oben gezogenen Muskeln an jedem Mundwinkel, aber Rebeccas dunkle Locken, und auch deren große Augen sahen hinter der Brille hervor. Aber etwas an der dunklen Haut und den hohen Wangenknochen gehörte David allein, wie ein zusätzliches Erbteil, weil er sabra war, ein eingeborener Israeli. Aaron und sein Zwillingsbruder waren dreizehn und klein für ihr Alter gewesen, als der Sechstagekrieg ausgebrochen war. Saul war fünf Stunden zu spät nach Tel Aviv geflogen und konnte nicht einmal mehr als Arzt an den Kampfhandlungen teilnehmen, aber nicht so spät, daß er nicht mit anhören konnte, wie Aaron und Isaac immer wieder aus zweiter Hand die Kriegserlebnisse ihres älteren Bruders Avner, der Kapitän bei der Luftwaffe war, zum besten gaben. Und Saul hatte sich auch alle Einzelheiten von der Tapferkeit von Aarons und Isaacs Vetter Chaim angehört, der sein Bataillon auf den Golanhöhen geführt hatte. Zwei Jahre später war der junge Avner tot, während des Zermürbungskriegs von einem ägyptischen Posten erschossen, und im darauffolgenden August fiel Chaim als Opfer eines falsch angelegten israelischen Minenstreifens im JomKippur-Krieg. In diesem Sommer war Aaron achtzehn gewesen und anfällig wegen des Asthmas, das ihn seit seiner Kindheit plagte. David, sein Vater, vereitelte jeden Plan, den Aaron schmiedete, um den Streitkräften beizutreten.
    Aarons Herzenswunsch war, einer Kommandotruppe anzugehören oder Fallschirmspringer zu werden, so wie sein Bruder Isaac. Als sämtliche Streitkräfte ihn wegen seines Asthmas und seiner schlechten Sehfähigkeit ablehnten, beendete der Junge das College und spielte dann seinen letzten Trumpf aus. Aaron ging zu seinem Vater und bat David - flehte David an -, ihm mit seinen alten Verbindungen eine Stelle beim Geheimdienst zu besorgen. Aaron wurde im Juni 1974 Mitglied des Mossad.
    Er wurde nicht als Einsatzagent ausgebildet; Israel verfügte über zu viele ehemalige Kommandosoldaten und andere Helden, die dem Mossad dienten, und war nicht darauf angewiesen, diesem hageren, kopflastigen jungen Mann, der immerzu kränkelte, eine derart anstrengende Tätigkeit zu übertragen. Aaron wurde die Standardausbildung in Selbstverteidigung und Waffengebrauch zuteil, er wurde sogar ein kleiner Meister im Umgang mit den 22er Berettas, die der Mossad zu der Zeit bevorzugte, aber seine wahre Begabung lag in der Kryptographie. Nachdem er drei Jahre im Bereich Kommunikation in Tel Aviv und ein weiteres Jahr im Einsatz irgendwo auf dem Sinai verbracht hatte, kam Aaron nach Washington, wo er in der israelischen Botschaft bei einer Task-Force-Einheit arbeitete. Die Tatsache, daß er David Eshkols Sohn war, tat seinen Chancen für eine derart verantwortungsvolle Position keinen Abbruch.
    »Wie geht es dir, Onkel Saul?« fragte Aaron auf hebräisch.
    »Gut«, sagte Saul. »Bitte sprich

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