Kraft des Bösen
meine Richtung?«
Ich setzte mich auf und schüttelte den Kopf. Das spätmorgendliche Sonnenlicht erwärmte das Innere des geschlossenen Autos. Ich sah mich in der Kabine des Buick um und fragte mich einen Moment, weshalb ich in einem Auto schlief und nicht daheim in meinem Bett. Dann fielen mir die endlose Nacht des Fahrens und die unerträgliche Last der Erschöpfung ein, die mich letztlich gezwungen hatte, auf dem gottverlassenen Rastplatz zu halten. Wie weit war ich gefahren? Ich konnte mich vage erinnern, daß ich an einer Ausfahrt Greensboro, North Carolina, vorbeigekommen war, kurz bevor ich gehalten hatte.
»Lady?« Die Kreatur klopfte mit einem schmutzverkrusteten Knöchel an die Scheibe.
Ich drückte auf den Knopf, um das Fenster herunterzulassen, aber es tat sich nichts. Ich kämpfte einen Augenblick gegen Klaustrophobie, erst dann dachte ich daran, die Zündung anzustellen. Alles in diesem absurden Fahrzeug wurde elektrisch angetrieben. Mir fiel auf, daß die Tankanzeige fast auf voll stand. Ich erinnerte mich, wie ich in der Nacht mehrmals gehalten, aber vielen Tankstellen wieder den Rücken gekehrt hatte, bis ich eine fand, wo keine Selbstbedienung bestand. Komme, was da wolle, ich hatte nicht die Absicht, mich auf die Stufe hinabzubegeben, wo ich selbst mein Benzin zapfen mußte. Das Fenster glitt mit einem Summen nach unten.
»Nehmen Sie Anhalter mit, Lady?« Die Stimme des Jungen, ein näselndes Winseln, war fast so abstoßend wie sein Äußeres. Er trug eine schmutzige Armeejacke und hatte lediglich ein kleines Bündel und einen Schlafsack als Gepäck. Hinter ihm auf der Interstate fuhren Autos, auf deren Windschutzscheiben Sonnenlicht funkelte. Ich hatte das plötzliche, befreiende Gefühl, als würde ich an einem Schultag schwänzen. Der Junge draußen schniefte und wischte sich die Nase mit dem Ärmel ab.
»Wie weit willst du?« fragte ich.
»Nach Norden«, sagte der Junge achselzuckend. Es setzt mich immer wieder in Erstaunen, daß wir irgendwie eine ganze Generation großgezogen haben, die nicht imstande ist, eine einfache Frage zu beantworten.
»Wissen deine Eltern, daß du per Anhalter fährst?« fragte ich.
Wieder entbot er mir ein Achselzucken, aber nur ein halbes, bei dem er nur eine Schulter hob, als würde die vollständige Geste zuviel Energie erfordern. Ich wußte sofort, daß dieser Junge mit ziemlicher Sicherheit ein Ausreißer war, möglicherweise ein Dieb und mit Gewißheit eine Gefahr für jeden, der verrückt genug war, ihn mitzunehmen.
»Steig ein«, sagte ich und drückte auf den Knopf, der die Beifahrertür entriegelte.
Wir hielten in Durham zum Frühstück. Der Junge betrachtete die Bilder auf der Plastikspeisekarte stirnrunzelnd, dann sah er mich blinzelnd an. »Äh, ich kann nicht ... ich meine, dafür habe ich kein Geld. Sie wissen schon, es reicht, daß ich bis zu meinem Onkel damit komme, aber .«
»Schon gut«, sagte ich. »Ist mir ein Vergnügen.« Wir sollten beide glauben, daß er zu seinem Onkel in Washington unterwegs war. Als ich ihn noch einmal gefragt hatte, wie weit er fahren wollte, hatte er mir einen seiner Frettchenblicke zugeworfen und gesagt: »Wie weit fahren Sie denn?« Als ich Washington als mein Ziel nannte, ließ er mich erneut seine nikotinverfärbten Zähne sehen und sagte: »Prima, da wohnt mein Onkel. Dahin will ich, zu meinem Onkel. In Washington. Prima.« Jetzt nuschelte der Junge der Kellnerin seine Bestellung zu, duckte sich und spielte mit der Gabel. Wie bei vielen jungen Menschen, denen ich heute begegnete, vermochte ich nicht zu sagen, ob der Junge wirklich zurückgeblieben war oder nur über eine erbärmlich schlechte Bildung verfügte. Der Großteil der Bevölkerung unter Dreißig scheint in die eine oder andere Kategorie zu fallen.
Ich trank von meinem Kaffee und fragte: »Du hast gesagt, dein Name ist Vincent?«
»Ja.« Der Junge senkte das Gesicht über die Tasse wie ein Pferd über den Trog. Seine Geräusche waren dem nicht unähnlich.
»Ein hübscher Name. Vincent wer?«
»Hä?«
»Wie heißt du mit Nachnamen, Vincent?«
Der Junge senkte den Mund wieder über die Tasse, damit er Zeit zum Nachdenken bekam. Er warf mir seinen Frettchenblick zu. »Äh ... Vincent Pierce.«
Ich nickte. Der Junge hätte beinahe Vincent Price gesagt. Ich hatte Price einmal während einer Kunstauktion in Madrid Ende der sechziger Jahre kennengelernt. Er war ein überaus sanftmütiger Mensch, mit erlesenen Manieren und großen, sanften
Weitere Kostenlose Bücher