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Kraft des Bösen

Kraft des Bösen

Titel: Kraft des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Händen, die nie zur Ruhe kamen. Wir hatten uns über Kunst, Kochen und die spanische Kultur unterhalten. Damals kaufte Price Kunstwerke im Auftrag einer monströsen amerikanischen Firma. Ich fand ihn als eine reizende Person. Erst Jahre später erfuhr ich von seinen Rollen in diesen gräßlichen Horror-Filmen. Vielleicht hatten er und Willi einmal zusammengearbeitet.
    »Und du fährst per Anhalter zu deinem Onkel nach Washington?«
    »Ja.«
    »Zweifellos Weihnachtsferien«, sagte ich. »Die Schule muß aus sein.«
    »Ja.«
    »In welchem Teil von Washington wohnt dein Onkel?«
    Vincent duckte sich wieder über seine Tasse. Das Haar hing ihm wie ein Gestrüpp fettiger Reben herab. Alle paar Sekunden hob er eine träge Hand und strich eine Strähne aus den Augen. Die Geste war so konstant und nervtötend wie eine Zuckung. Ich kannte diesen Streuner noch keine Stunde, und schon gingen mir seine Angewohnheiten auf den Wecker.
    »Möglicherweise in einem Vorort?« drängte ich.
    »Ja.«
    »In welchem, Vincent? Es gibt eine Menge Vororte rund um Washington. Vielleicht fahren wir durch, und ich kann dich absetzen. Ist es eines der teureren Wohnviertel?«
    »Ja. Mein Onkel, der hat eine Menge Zaster. Meine ganze Familie ist reich, wissen Sie?«

Ich konnte nicht anders, ich mußte seine schmutzige Armeejacke ansehen, die er inzwischen aufgemacht hatte, so daß man ein fadenscheiniges schwarzes Sweatshirt sehen konnte. Seine fleckigen Jeans waren an mehreren Stellen durchgewetzt. Mir war selbstverständlich bewußt, daß der Bekleidungsstil heute gar nichts mehr aussagte. Vincent hätte der Enkel von J. Paul Getty sein und dennoch in diesem Aufzug herumlaufen können. Ich mußte an die gestärkten Seidenanzüge denken, die mein Charles getragen hatte. Ich erinnerte mich an Roger Harrisons üppige Kostümierung zu jedem Anlaß; Reisecape und Anzug für den kürzesten Ausflug, Reithosen, dunkler Schlips und Frack für Abendgesellschaften. Was die Kleidung anbelangt, so hat Amerika eindeutig den Gipfel der Gleichmacherei erreicht. Wir haben die Möglichkeiten eleganter Kleidung eines ganzen Volkes auf die zerschlissenen, schmutzigen Fetzen des kleinsten gemeinsamen Nenners der Gesellschaft reduziert.
    »Chevy Chase?« sagte ich.
    »Hm?« Vincent sah mich blinzelnd an.
    »Der Vorort. Möglicherweise ist es Chevy Chase?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Bethesda? Silver Springs? Takoma Park?«
    Vincent runzelte die Stirn, als würde er über alle nachdenken. Er wollte gerade etwas sagen, als ich ihn unterbrach. »Oh, ich weiß«, sagte ich. »Wenn dein Onkel reich ist, lebt er wahrscheinlich in Bel Air. Ist es nicht so?«
    »Klar, das ist es«, stimmte Vincent erleichtert zu. »Da wohnt er.«
    Ich nickte. Mein Toast und der Tee kamen. Vincents Eier, Würstchen, Bratkartoffeln, Schinken und Waffeln wurden vor ihn gestellt. Wir aßen schweigend, nur seine Schmatzlaute waren zu hören.
    Hinter Durham verlief die 185 wieder nach Norden. Etwas über eine Stunde, nachdem wir unser Frühstück beendet hatten, kamen wir nach Virginia. Als ich ein Mädchen war, hatte meine Familie die Reise nach Virginia häufig unternommen, um Freunde und Verwandte zu besuchen. Normalerweise hatten wir den Zug genommen, aber mein bevorzugtes Transportmittel war das kleine, aber bequeme Postschiff gewesen, das in Newport News anlegte. Jetzt mußte ich einen zu großen und zu leistungsschwachen Buick auf einer vierspurigen Autobahn nach Norden fahren, Gospelmusik auf Mittelwelle anhören und das Fenster einen Spalt offen lassen, damit der Geruch von Schweiß und getrocknetem Urin von meinem schlafenden Beifahrer nach draußen zog.
    Wir hatten Richmond hinter uns gelassen, und es war Spätnachmittag, als Vincent erwachte. Ich fragte ihn, ob es ihm gefallen würde, selbst einmal eine Weile zu fahren. Meine Arme und Beine schmerzten vor Anstrengung, mit dem Verkehr Schritt zu halten. Niemand hielt sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung von fünfundfünfzig Stundenmeilen. Meine Augen waren auch müde.
    »He, klar. Ich meine, sind Sie sicher?« fragte Vincent.
    »Ja«, sagte ich. »Ich gehe davon aus, daß du vorsichtig fährst.«
    »Klar doch.«
    Ich fand einen Rastplatz, wo wir die Plätze tauschen konnten. Vincent fuhr konstant mit achtundsechzig Stundenmeilen und seine Lider waren so schwer, daß ich einen Moment befürchtete, er wäre eingeschlafen. Ich beruhigte mich mit dem Gedanken, daß moderne Automobile so narrensicher sind, daß sie von Schimpansen

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