Kraft des Bösen
herum und sah Francis an. Es war nicht derselbe Mann, den er kennengelernt hatte. »Was meinen Sie damit?«
»Ihr teures, angenommenes Vaterland ist berühmt für seine Härte, wenn es darum geht, seinen Feinden Gewalt anzutun«, sagte Harrington. »Seine Philosophie ist >Auge um Auge<, seine Politik auf Vergeltung ausgerichtet, sein ganzer Stolz die Schlagkraft von Armee und Luftwaffe.«
»Israel verteidigt sich«, sagte Saul. Die surrealistische Aura der Unterhaltung machte ihn schwindlig. Über ihnen spiegelten sich die letzten Strahlen des Sonnenlichts auf der Kuppel des Capitols.
Harrington lachte wieder. »Ah, ja, mein getreuer Bauer. Gewalt im Namen der Verteidigung ist immer salonfähiger. Darum die Wehrmacht.« Er betonte das Wehr - Verteidigung. »Israel hat Feinde, nicht wahr? Aber die hatte das Dritte Reich auch. Und nicht die geringsten Feinde waren eben der Abschaum, die, die sich als hilflose Opfer darstellten, als sie versuchten, das Reich zu vernichten, und die sich heute als Helden gebärden, wenn sie Gewalt und Vernichtung über die Palästinenser bringen.«
Darauf antwortete Saul nicht. Der Antisemitismus des Standartenführers war eine kindische Provokation. »Was wollen Sie?« fragte Saul leise.
Harrington zog eine Braue hoch, »Was ist schlimm daran, wenn man einen alten Bekannten aufsucht, um ein interessantes Gespräch mit ihm zu führen?« sagte er in Englisch.
»Wie haben Sie mich gefunden?«
Harrington zuckte die Achseln. »Ich würde sagen, Sie haben mich gefunden«, antwortete er mit dem seltsam kehligen Grollen, das nicht Francis Harringtons Stimme war. »Stellen Sie sich meine Überraschung vor, als mein teurer Bauer in Charleston auftaucht. Mein junger Ewiger Jude ist weit von Chelmno entfernt.«
Saul wollte fragen: Wie haben Sie mich erkannt?, besann sich aber eines Besseren. Die Stunden vor fast vierzig Jahren, als sich die beiden Sauls Körper geteilt hatten, hatten eine üble intime Beziehung geschaffen, die anhaltender war, als Worte vermitteln konnten. Saul wußte, daß er den Standartenführer sofort erkennen würde - ihn schon erkannt hatte -, obwohl soviel Zeit verstrichen war. Statt dessen fragte Saul: »Sie sind mir von Charleston aus gefolgt?«
Harrington lächelte. »Es wäre mir ein Vergnügen gewesen, einen Ihrer Vorträge an der Columbia zu hören. Vielleicht hätten wir uns über die Ethik des Dritten Reichs unterhalten können.«
»Vielleicht«, sagte Saul. »Vielleicht könnten wir uns auch über den relativen Geisteszustand eines tollwütigen Hundes unterhalten. Für dessen Krankheit gibt es immer noch nur eine Lösung: Man muß den Hund erschießen.«
»Ah, jaaaa«, fauchte Harrington. »Die Endlösung in anderer Form. Ihr Juden seid nie eine subtile Rasse gewesen.«
Saul erschauerte. Hinter der sanften Stimme und dieser menschlichen Marionette stand ein Mann, der direkt Hunderte wenn nicht Tausende - Menschen ermordet hatte. Saul konnte sich nur einen Grund vorstellen, weshalb der Standartenführer ihn ausgesucht hatte und ihm von Charleston gefolgt war, um ihn zu töten. Standartenführer Wilhelm von Borchert, alias William Borden, hatte große Mühen auf sich genommen, um die Welt davon zu überzeugen, daß er tot war. Es gab keinen Grund, sich der möglicherweise einzigen Person auf der Welt zu offenbaren, die seine wahre Identität kannte, wenn es sich nicht um den letzten Akt eines Katz-und-Maus-Spiels handelte. Saul griff tiefer in die Tasche und legte die Hand um eine Rolle Vierteldollarmünzen, die er dort trug. Es war die einzige Waffe, die er seit dem Wald der Eulen vor sechsunddreißig Jahren in Polen angerührt hatte.
Wenn es ihm gelang, Francis niederzuschlagen - was wesentlich schwieriger war, als Fernsehen und Kino vermittelten, wie Saul wußte -, was sollte er dann machen? Weglaufen. Aber was konnte den Standartenführer daran hindern, in seinen
Verstand einzudringen? Saul erschauerte beim Gedanken, diese geistige Vergewaltigung noch einmal zu erleben. Er mußte nicht einmal das Opfer eines Verbrechens werden, lediglich eine weitere Zahl in einer Statistik, ein zerstreuter Professor, der kurz nach Einbruch der Dämmerung in den dichten Washingtoner Verkehr getreten war ...
Er würde Francis nicht zurücklassen. Saul schloß die Faust um die Münzrolle und zog sie langsam heraus. Er wußte nicht, ob er den Jungen zurückholen konnte - wenn er in das maskenhafte Gesicht vor sich sah, hielt er es nicht für möglich -, aber er wußte,
Weitere Kostenlose Bücher