Kraft des Bösen
traumatischen Erlebnisse und empathischen Pfade zugeschnitten sein. Ich könnte die hypnotischen Induktionssitzungen nicht herbeiführen, um die ... äh ... erforderlichen zu produzieren.«
»Aber wenn dieses Zeug bei Ihnen funktioniert, hätte es auf keinen der Gedankenvampire Einfluß, außer auf Ihren Standartenführer.«
»Ich kann es mir nicht vorstellen. Nur er dürfte über den gemeinsamen Hintergrund verfügen, um diese Persönlichkeit auszustaffieren, die ich bei diesen Empathiesitzungen erzeuge - zu erzeugen versuche.«
»Und es kann ihn eigentlich gar nicht aufhalten? Ihn nur ein paar Sekunden verwirren, wenn diese monatelange Arbeit und dieses EEG-Dingsbums funktionieren?«
»Richtig.«
Natalie schüttelte den Kopf und betrachtete die beiden Lichtkegel der Scheinwerfer, die das endlose Asphaltband vor ihnen erhellten. »Wie kann es dann den ganzen Zeitaufwand wert sein, Saul?«
Saul schlug das Dossier eines jungen Mädchens mit weißem Gesicht, ängstlichen Augen, dunklem Mantel und Kopftuch auf, das er studiert hatte. Die schwarzen Hosen und hohen Stiefel eines Mannes der Waffen-SS waren am oberen linken Rand der Fotografie gerade noch zu erkennen. Das Mädchen hatte sich so schnell zu der Kamera umgedreht, daß ihr Gesicht kaum mehr als eine Schliere war. Am rechten Arm trug sie eine kleine Reisetasche, mit dem linken drückte sie eine zerschlissene, selbstgemachte Puppe an die Brust. Eine halb in deutscher Sprache betippte Seite von Wiesenthals dünnem Kanzleipapier war der einzige Begleittext zu dem Foto.
»Selbst wenn alle Stricke reißen, hat sich der Zeitaufwand gelohnt«, sagte Saul Laski leise. »Die Mächtigen haben ihren Teil der Aufmerksamkeit der Welt bekommen, auch wenn sich ihre Macht als das reine Böse entpuppt hat. Die Opfer bleiben die anonymen Massen. Zahlen. Massengräber. Diese Ungeheuer haben unser Jahrhundert mit den Massengräbern ihrer Opfer gedüngt, und es wird höchste Zeit, daß die Ohnmächtigen Namen und Gesichter bekommen - und Stimmen.« Saul schaltete die Taschenlampe aus und lehnte sich zurück. »Es tut mir leid«, sagte er. »Könnte gut sein, daß meine Besessenheit meinen gesunden Menschenverstand umnebelt.«
»Ich fange allmählich an, Besessenheit zu verstehen«, sagte Natalie.
Saul betrachtete sie im spärlichen Licht des Armaturenbretts. »Und Sie sind immer noch bereit, Ihren Part zu spielen?«
Natalie lachte nervös. »Mir fällt keine andere Möglichkeit ein, Ihnen? Aber mit jeder Meile, die wir uns nähern, bekomme ich mehr Angst.«
»Wir müssen nicht weiterfahren«, sagte Saul. »Wir können zum Flughafen in Shreveport und nach Israel oder Südamerika fliegen.«
»Nein, das können wir nicht«, sagte Natalie.
Nach einer Weile sagte Saul: »Ja, Sie haben recht.«
Sie wechselten sich ab, danach fuhr Saul ein paar Stunden. Natalie döste. Sie träumte von Rob Gentrys Augen und seinem betroffenen und fassungslosen Blick, als ihm die Klinge den Hals aufschlitzte. Sie träumte, daß ihr Vater sie in St. Louis anrief und ihr sagte, daß alles ein Irrtum war, daß es allen gutging und sogar ihre Mutter wohlbehalten zu Hause war, aber als sie dort eintraf, war das Haus dunkel, die Zimmer mit klebrigen Spinnweben verhangen und das Spülbecken von einer dunklen, gerinnenden Flüssigkeit verstopft. Natalie, die plötzlich wieder ein Mädchen war, lief weinend zum Zimmer ihrer Eltern. Aber ihr Vater war nicht da, und als ihre Mutter von dem spinnwebbedeckten Laken aufstand, da war es überhaupt nicht ihre Mutter. Es handelte sich um einen verwesenden Leichnam mit einem Gesicht, das kaum mehr als ein hautbespannter Schädel war, aus dem Melanie Fullers Augen sahen. Und der Leichnam lachte.
Natalie erwachte ruckartig und mit klopfendem Herzen. Sie befanden sich auf der Interstate. Draußen schien es hell zu sein. »Dämmert es schon?« fragte sie.
»Nein«, sagte Saul mit sehr müder Stimme. »Noch nicht.«
Kaum waren sie im alten Süden, da bestanden die Städte aus Vorortkonstellationen an den Interstate-Abfahrten: Jackson, Meridian, Birmingham, Atlanta. Sie verließen das Interstate- System in Augusta und fuhren auf dem Highway 78 durch das südliche Drittel von South Carolina. Selbst bei Nacht wurde die Landschaft wieder vertraut für Natalie - St. George, wo sie mit neun Jahren im Sommerlager gewesen war, in jenem endlosen, einsamen Sommer nach dem Tod ihrer Mutter; Dorchester, wo die Schwester ihres Vaters gelebt hätte, bis sie 1976 an Krebs
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