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Kraft des Bösen

Kraft des Bösen

Titel: Kraft des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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gestorben war; Summerville, wo sie Sonntagnachmittags Ausflüge hin unternommen hatte, um die alten Villen zu fotografieren - Charleston.
    Charleston.
    Sie kamen in der vierten Nacht der Reise in die Stadt, kurz vor vier Uhr morgens, in der atemlosen Stunde der Nacht, wenn die Seele tatsächlich am schwächsten zu sein scheint. Natalie kamen die vertrauten Schauplätze ihrer Kindheit schief und verzerrt vor, das arme, saubere Viertel St. Andrews irgendwie zu substanzlos wie schlecht projizierte Bilder auf einer matten Leinwand. Ihr Haus war dunkel. Kein Schild >Zu verkaufen< stand davor, kein fremdes Auto in der Einfahrt. Natalie hatte nicht die geringste Ahnung, wer sich nach ihrem plötzlichen Verschwinden um ihr Hab und Gut kümmerte. Sie betrachtete das fremdvertraute Haus mit der kleinen Veranda, wo sie und Saul und Rob vor fünf Monaten gesessen und sich bei Zitronenlimonade über das alberne Thema Gedankenvampire unterhalten hatten, und verspürte nicht das geringste Bedürfnis, es zu betreten. Sie fragte sich, wer die Fotografien ihres Vaters geerbt hatte - die von Minor White und Cunningham und Milito und die eigenen bescheidenen Drucke ihres Vaters -, und stellte erstaunt fest, daß ihr plötzlich Tränen in den Augen brannten. Sie fuhr ohne abzubremsen die Straße entlang.
    »Wir müssen nicht schon heute nacht in die Altstadt«, sagte Saul.
    »Doch, müssen wir«, sagte Natalie und fuhr nach Osten, Richtung Brücke, in den alten Stadtkern.
    Ein einziges Licht war in Melanie Fullers Haus an. In ihrem ehemaligen Zimmer, erster Stock vorne. Kein elektrisches Licht, nicht einmal das weiche Flackern einer Kerze, sondern ein ekelhaftes grünes Pulsieren wie die schimmlige Phosphoreszenz von verfaulendem Holz tief in der Dunkelheit eines Sumpfes.
    Natalie umklammerte das Lenkrad fest, damit sie nicht so zitterte.
    »Der Zaun vorne ist durch eine hohe Mauer mit Doppeltür ersetzt worden«, sagte Saul. »Das Haus ist eine Festung.«
    Natalie betrachtete das fahle Grün, das zwischen Läden und Vorhängen pulsierte.
    »Wir wissen nicht, ob sie es ist«, sagte Saul. »Jacks Informationen beruhen nur auf Indizien und sind auch schon wieder mehrere Wochen alt.«
    »Sie ist es«, sagte Natalie.
    »Gehen wir«, sagte Saul. »Wir sind müde. Wir suchen uns für heute einen Schlafplatz und morgen eine Möglichkeit, wo wir unsere Sachen aufstellen können, ohne ständig Gefahr zu laufen, daß uns jemand stört.«
    Natalie legte den Gang des Kombi ein und fuhr langsam auf der dunklen Straße davon.
    Sie fanden ein billiges Motel am nördlichen Stadtrand und schliefen sieben Stunden wie Tote. Natalie wachte um die Mittagszeit auf, fühlte sich desorientiert und verwundbar und floh aus verworrenen und drängenden Träumen, in denen Hände durch zerbrochene Fensterscheiben nach ihr griffen.
    Beide waren übermüdet und gereizt, keiner sprach viel, sie kauften Hähnchen im Schnellimbiß und aßen sie in einem Park im Norden von Charleston am Fluß. Der Tag war heiß, um die fünfundzwanzig Grad, das Sonnenlicht so unbarmherzig wie die Deckenbeleuchtung in einem Operationssaal.
    »Ich würde vorschlagen, daß Sie bei Tage nicht ausgehen«, sagte Saul. »Jemand könnte Sie erkennen.«
    Natalie zuckte die Achseln. »Sie sind die Vampire, und wir werden zu Nachtmenschen«, sagte sie. »Irgendwie ungerecht.«
    Saul sah mit zugekniffenen Augen über das gleißende Wasser. »Ich habe viel über diesen Deputy und den Piloten nachgedacht.«
    »Was ist mit denen?«

»Wenn ich den Deputy nicht gezwungen hätte, diesen Funkspruch an Haines abzusetzen, wäre der Pilot noch am Leben«, sagte Saul.
    Natalie trank Kaffee. »Haines auch.«
    »Ja, aber zu dem Zeitpunkt war mir klar, wenn ich den Piloten und den Deputy hätte opfern müssen, hätte ich es getan. Nur um einen Mann zu erwischen.«
    »Er hat Ihre Familie getötet«, sagte Natalie. »Er hat versucht, Sie zu töten.«
    Saul schüttelte den Kopf. »Aber sie waren keine Kämpfenden«, sagte er. »Begreifen Sie nicht, wohin das führt? Fünfundzwanzig Jahre lang habe ich die palästinensischen Terroristen mit ihren karierten kefijas verabscheut, die blind gegen Unschuldige vorgegangen sind, weil sie zu feige waren, offen und ehrlich zu kämpfen. Jetzt haben wir uns dieselbe Taktik zu eigen gemacht, weil wir zu schwach sind, den Ungeheuern entgegenzutreten.«
    »Unsinn«, sagte Natalie. Sie betrachtete eine fünfköpfige Familie, die am Ufer ein Picknick machte. Die Mutter ermahnte ein

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