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Kraft des Bösen

Kraft des Bösen

Titel: Kraft des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Natalie hatte Anweisung, nur dann aus ihrem Hinterhalt zu feuern, wenn Harod tatsächlich auf Saul schießen oder einen anderen mit der Absicht, ihn zu töten, >benützen< sollte.
    Saul und Miß Sewell wurden auf den Rücksitz des Mercedes verfrachtet und dünne Ketten mehrfach um ihre Beine und Handgelenke geschlungen. Harods eurasische Sekretärin - Saul wußte aus Harringtons und Cohens Berichten, daß ihr Name Maria Chen war - war gründlich, achtete aber sorgfältig darauf, daß sie ihnen nicht die Blutzirkulation abstellte, als sie die Ketten straff zog und die kleinen Vorhängeschlösser anbrachte. Saul betrachtete sie kritisch und fragte sich, was sie hierherführte, was sie motivierte. Er vermutete, daß das immer das Verderben seines Volkes gewesen war, die ewige Suche der Juden nach Begreifen, Motivation und den Gründen für alles, endlose talmudische Diskussionen über Nebensächlichkeiten, während ihre niederträchtigen und zielstrebigen Feinde sie anketteten und gefahrlos zu den Öfen führten; ihre Mörder machten sich nie Gedanken über die Frage von Mittel und Zweck oder Moral, solange die Züge pünktlich fuhren und der Papierkram ordnungsgemäß erledigt wurde.
    Saul Laski erwachte ruckartig, bevor der Übergang ins REM-Stadium seine Träume auslösen konnte. Er hatte hundert der Biographien, die Simon Wiesenthal geliefert hatte, in den Katalog der hypnotisch induzierten Persönlichkeiten aufgenommen, aber nur ein Dutzend kehrten in den Träumen wieder, für die er sich selbst konditioniert hatte. Er träumte nicht von ihren Gesichtern - obwohl er in Yad Vashem und Lohame HaGeta’ot stundenlang die Fotografien betrachtet hatte -, weil er durch ihre Augen sah, aber die Landschaften ihres Lebens, Schlafsäle und Arbeitslager, Stacheldraht und glotzende Gesichter, waren wieder zur wahren Landschaft von Saul Laskis Existenz geworden. Ihm wurde klar, als er in der Felsnische unter dem Gestein von Dolmann Island lag, daß er die Landschaft der Vernichtungslager eigentlich nie richtig verlassen hatte. In Wahrheit war sie das einzige Land, dessen Staatsbürger er wirklich war.
    Er wußte, als er kurz vor dem Einschlafen verharrte, wessen Träume ihn in dieser Nacht ereilen würden: Shalom Krzaczek, ein Mann, dessen Gesicht und Leben er sich eingeprägt hatte, die aber nun für ihn verloren waren, da die Einzelheiten in induzierte Wirklichkeit verwandelt worden waren und die Daten im Dunst wahrer Erinnerungen verschwanden. Saul war nie selbst im Warschauer Getto gewesen, aber er erinnerte sich jetzt in jeder Nacht daran - an die Reihen der Flüchtlinge, die durch die Kanalisation vor dem Feuer flohen, auf die Exkremente herabregneten, während sie fluchend einer nach dem anderen durch immer engere schwarze Rohre krochen und beteten, ihr Vordermann möge nicht sterben und ihnen den Weg versperren, während Dutzende panischer Männer und Frauen kratzten und krochen und sich den Weg in die Kanalisation der Arier erkämpften, hinter die Mauer und den Stacheldraht und die Reihen der Panzer; Krzaczek führte seinen neunjährigen Enkelsohn Leon durch die Kanalisation der Arier, wo arische Exkremente auf sie regneten und um sie herumschwammen, während das Wasser stieg, sie erstickte, sie ertränkte, dann Licht weiter vorn, aber Krzaczek führte niemanden mehr, er kroch allein ins arische Sonnenlicht, drehte sich wieder um, zwängte seinen Körper in das enge, stinkende Loch zurück, nachdem er vierzehn Tage in den dunklen Abwasserkanälen verbracht hatte. Er ging wieder hinein, um Leon zu finden.
    Saul wußte, daß dies der erste seiner Träume sein würde, die gar keine Träume waren, und akzeptierte ihn. Und schlief.
     

62. Kapitel
     
    Dolmann Island: Sonntag, 14. Juni 1981
     
    Tony Harod sah am Sonntag eine Stunde vor Sonnenuntergang, wie Willi eintraf; der zweimotorige Privatjet landete auf einer glatten Landebahn im Schatten hoher Eichen. Barent, Sutter und Kepler gesellten sich in dem kleinen, klimatisierten Terminalgebäude am Ende der Rollbahn zu Harod. Harod war so überzeugt, Willi würde nicht an Bord dieses Flugzeugs sein, daß er fast vor Überraschung aufgeschrien hätte, als die vertrauten Gesichter von Tom Reynolds, Jensen Luhar und zuletzt Willi Borden selbst auftauchten.
    Außer ihm schien niemand erschrocken zu sein. Joseph Kepler stellte sie einander vor, als wäre er ein alter Freund von Willi. Jimmy Wayne Sutter verbeugte sich und lächelte geheimnisvoll, als er Willi die Hand gab.

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