Kraft des Bösen
hohe Lücke blieb, durch die wahrscheinlich Nahrungsmitteltabletts hereingeschoben wurden.
Saul lag auf dem Rücken und sah zu dem dreißig Zentimeter von seinem Gesicht entfernten Gestein hinauf. Irgendwo weiter unten im Flur fing ein Mann mit abgehackter Stimme an zu schluchzen. Schritte waren zu hören, dann Schläge auf Metall und Fleisch, worauf wieder Stille einkehrte. Saul war völlig ruhig. Er war entschlossen. Er fühlte sich auf eine seltsam intime Weise seiner Familie - Josef, Stefa - so nahe wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
Saul spürte, wie ihm die Augen zufielen, machte sie wieder auf, rieb sie und setzte die Brille wieder auf. Seltsam, daß sie ihm die Brille gelassen hatten. Er versuchte, sich zu erinnern, ob sie die Gefangenen ihre Brillen bis zur >Grube< in Chelmno tragen ließen. Nein. Ihm fiel ein, daß er einmal zu einem Trupp gehört hatte, der Hunderte Brillen, Tausende Brillen, Berge von Brillen von einem Raum auf ein behelfsmäßiges Förderband geschaufelt hatte, wo andere Gefangene die Gläser vom Metall und die wertvollen Metalle von Edelstahl trennten. Im Reich wurde nichts vergeudet. Nur Menschen.
Er zwang sich, die Augen offenzuhalten, und kniff sich in die Wangen. Das Gestein war hart, aber er wußte, es würde ihm problemlos gelingen, in Schlaf zu versinken. In Träume zu versinken. Er hatte seit drei Wochen nicht mehr richtig geschlafen, da jede Nacht der Beginn der Traumphase, Rapid Eye Movement, die posthypnotischen Suggestionen auslöste, die jetzt seine Träume bildeten. Seit acht Nächten brauchte er den Stimulus der Glocke nicht mehr. REM alleine löste die Träume aus.
Waren es Träume oder Erinnerungen? Saul wußte es nicht mehr. Die Traum-Erinnerungen waren Wirklichkeit geworden. Seine Tage mit Natalie, die Planungen und Vorbereitungen und Durchführungen, waren Träume. Darum fühlte er sich so ruhig. Die Dunkelheit, der kalte Korridor, die nackten Gefangenen, die Zelle - das alles stand seiner Traumrealität, den selbstinduzierten Erinnerungen an die Lager, wesentlich näher als die heißen Tage in Charleston, an denen er Natalie und den Knaben Justin beobachtet hatte. Natalie und das tote Ding, das wie ein Kind aussah ...
Saul versuchte, an Natalie zu denken. Er drückte die Augen fest zu, bis sie sich mit Tränen füllten, riß sie wieder auf und dachte an Natalie.
Es war zwei Tage her, inzwischen drei, ein Donnerstag, seit Natalie die Lösung gefunden hatte. »Saul«, rief sie, legte die Karten weg und drehte sich am kleinen Tisch in der Kochnische des Motels, wo sie saßen, zu ihm um, »wir müssen es nicht alleine machen. Wir können jemanden vor Ort haben, während jemand anders in Charleston aufpaßt!« Hinter ihr bedeckten vergrößerte Fotos von Dolmann Island wie ein körniges Mosaik eine ganze Wand der Kochnische.
Saul hatte den Kopf geschüttelt und war zu erschöpft gewesen, auf ihre Begeisterung anzusprechen. »Wie? Sie sind alle tot, Natalie. Alle tot. Rob, Aaron, Cohen. Meeks fliegt das Flugzeug.«
»Nein - andere!« rief sie und schlug sich mit der Handfläche auf die Stirn. »Ich habe die ganzen Wochen schon überlegt, es muß jemanden geben - jemanden mit einem vitalen Interesse. Und ich kann sie bis morgen herholen. Ich sehe Melanie erst wieder bei unserer Sitzung im Park am Samstagmorgen.«
Sie erzählte es ihm, und achtzehn Stunden später sah er sie, wie sie aus dem Flugzeug von Philadelphia ausstieg und auf beiden Seiten von je einem farbigen Mann flankiert wurde. Jackson sah älter aus als vor sechs Monaten, sein erkahlender Schädel glänzte unter dem grellen Licht der Schalterhalle, sein Gesicht wies Furchen auf, die einen endgültigen, gleichgültigen Zustand der Neutralität mit der Welt verkündeten. Der Jugendliche rechts von Natalie hätte ein Antimateriegegenstück zu Jackson sein können; groß, hager, schlaksig, mit so beweglichen Gesichtszügen, daß das Mienenspiel darüber hinweghuschte wie Licht über eine Quecksilberoberfläche. Das hohe, laute Gelächter des jungen Mannes hallte durch den Korridor des Terminals, zahlreiche Köpfe wurden gedreht. Saul erinnerte sich, daß der Spitzname des Mannes Catfish war.
Später, während der Fahrt nach Charleston, sagte Jackson: »Laski, sind Sie sicher, daß es sich um Marvin handelt?«
»Es ist Marvin«, sagte Saul. »Aber er ist ... anders.«
»Hat die Voodoo-Lady ihn endgültig?« fragte Catfish. Er machte sich am Autoradio zu schaffen und versuchte, einen guten Sender zu
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