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Kraft des Bösen

Kraft des Bösen

Titel: Kraft des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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auf.
    Es war nicht die günstigste Situation. Saul hatte alles auf eine Karte gesetzt, sich sogar von Luhar überwältigen lassen, obwohl er die Tasche mit den Waffen rechtzeitig hätte erreichen können, weil er die vage Hoffnung hegte, man würde ihn zu dem Standartenführer bringen. Es war ein Szenario, das er Natalie schon vor Monaten geschildert hatte, als sie in der orangefarbenen israelischen Dämmerung Kaffee tranken, aber die Umstände waren alles andere als optimal. Er hatte nur eine Chance, den Nazi-Mörder zu stellen, wenn Willi derjenige war, der seine übersinnliche Fähigkeit bei ihm anwendete. Jetzt waren sämtliche regressiven Mutanten anwesend - Barent, Sutter, derjenige namens Kepler, sogar Harod und Melanie Fullers Surrogat -, und Saul hatte Todesangst, einer von ihnen könnte versuchen, seinen Verstand zu übernehmen und damit die einzige winzige Chance zunichte machen, daß es ihm gelang, den Standartenführer zu überlisten. Hinzu kam die Tatsache, daß er in seinen Szenarien gegenüber Natalie stets von einer Mann- gegen-Mann-Konfrontation mit dem alten Mann ausgegangen war, bei der Saul körperlich der kräftigere der beiden sein würde. Jetzt mußte er fast seine gesamte Kraft aufbringen, nur um stehenzubleiben; seine linke Hand hing blutend und nutzlos herunter, und irgendwo bei seinem Brustbein steckte eine Kugel, während der Standartenführer fit und ausgeruht aussah, dreißig Pfund schwerer - nur Muskeln - als Saul, von mindestens zwei superb konditionierten Handlangern umgeben und mit mindestens einem halben Dutzend Menschen in der Nähe, die er nach Belieben benützen konnte. Und Saul ging nicht davon aus, daß Barents Wachmänner ihn mehr als drei unerlaubte Schritte machen lassen würden, bevor sie ihn kaltblütig niederschossen.
    Aber Saul war glücklich. Es gab keinen Ort auf der Welt, wo er lieber gewesen wäre.
    Er schüttelte den Kopf, damit er sich darauf konzentrieren konnte, was vor sich ging. Barent und der Standartenführer hatten sich gesetzt, Barent stellte gerade die menschlichen Schachfiguren auf. Zum zweitenmal an diesem Tag erlebte Saul eine Halluzination, in der der große Saal wie eine Spiegelung auf einem windgepeitschten Teich flimmerte, und plötzlich sah er Holz und Stein des polnischen Schlosses, wo graugekleidete Sonderkommandos sich unier jahrhundertealten Gobelins vergnügten, während der ergrauende >Alte< zusammengekauert in seiner Obergruppenführeruniform dasaß wie eine verschrumpelte alte Mumie, die in ausgeleierte Fetzen gewickelt ist. Fackeln ließen Schatten auf Stein und Fliesen und den rasierten Köpfen der zweiunddreißig jüdischen Gefangenen tanzen, die erschöpft zwischen den beiden deutschen Offizieren standen. Der junge Standartenführer strich sich das blonde Haar aus der Stirn, stützte einen Ellbogen aufs Knie und lächelte Saul zu.
    Der Standartenführer lächelte Saul zu. » Willkommen, Jude«, sagte er.
    »Los doch, los doch«, sagte Barent, »wir werden alle spielen. Joseph, Sie kommen hierher zum Königsläufer drei.«
    Kepler wich mit einem entsetzten Gesichtsausdruck zurück. »Das kann nicht Ihr Ernst sein«, sagte er. Er stieß so fest an den Bartresen, daß diverse Flaschen klirrten.
    »O doch«, sagte Barent, »es ist mein Ernst. Bitte beeilen Sie sich, Joseph. Herr Borden und ich möchten es hinter uns bringen, bevor es zu spät wird.«
    »Scheren Sie sich zum Teufel!« kreischte Kepler. Er ballte die Fäuste, während die Sehnen an seinem Hals hervortraten. »Ich werde mich nicht wie ein Scheißsurrogat benützen lassen, während Sie ...« Keplers Stimme verstummte, als hätte man die Nadel von einer kaputten Schallplatte gehoben. Der Mund des Mannes bewegte sich noch ein paar Sekunden, aber kein Laut kam heraus. Keplers Gesicht wurde rot, dann purpurn, dann in den Sekunden, ehe er auf den Fliesen zusammenbrach, fast schwarz. Keplers Hände schienen von brutalen, unsichtbaren Händen nach hinten gezogen, seine Knöchel von unsichtbaren Seilen gefesselt zu werden, als er unkontrolliert zuckend und schlängelnd und hüpfend weiterrobbte - wie sich ein gestörtes Kind vorstellen würde, daß sich ein Wurm fortbewegt -, und sich bei jeder absurden Zuckung mit Brust und Kinn auf den Fliesenboden schlug. Auf diese Weise arbeitete sich Joseph Kepler auf Gesicht und Bauch und Schenkeln zentimeterweise über acht Meter Boden dahin, wobei er Blutstreifen seines aufgeschürften Kinns hinterließ, bis er auf dem Quadrat des

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