Kraft des Bösen
sollen Sie wissen, Standartenführer, ich bin, wie Israel, zu cfer Erkenntnis gelangt, daß es eine Moral gibt, die Opfer und einen Imperativ über alles andere stellt - und das ist, niemals wieder zuzulassen, daß wir zu Opfern von Ihrer Art und denen, die Ihrer Art dienen, werden. Hundert Generationen von Opfern verlangen es. Es gibt keine andere Wahl.«
Der Standartenführer schüttelte den Kopf. »Sie haben nichts gelernt«, spie er aus. »Sie sind so dummsentimental wie Ihre idiotischen Verwandten, die passiv zu den Öfen gegangen sind, gegrinst und an ihren Locken gezupft und ihren verblödeten Kindern noch befohlen haben, mit ihnen zu kommen. Ihr seid eine hoffnungslose, schmutzige Rasse, und das einzige Verbrechen des Führers war, daß er euch nicht alle ausgerottet hat. Dennoch wird es nichts Persönliches sein, wenn ich Sie terminiere, Bauer. Sie haben mir treu gedient, sind aber zu unberechenbar. Diese Unberechenbarkeit ist meinen Zwecken nicht mehr dienlich.«
»Wenn ich Sie töte«, sagte Saul, »wird es ausschließlich etwas Persönliches sein.« Er ging einen Schritt auf den Standartenführer zu.
Der Standartenführer seufzte resigniert. »Sie werden jetzt sterben«, sagte er. »Leb wohl, Jude.«
Saul spürte, wie die Wucht der Kräfte des Standartenführers ihn wie ein gewaltiger Schlag auf Gehirn und Ansatz der Wirbelsäule traf, so brutal und unausweichlich, als würde man auf einem spitzen Stahlrohr gepfählt werden. Binnen eines Augenblicks spürte Saul, wie sein eigenes Bewußtsein fortgerissen wurde wie dünne Kleidung von einem Vergewaltigungsopfer, während irgendwo an seinem Hirnansatz der Theta-Rhythmus zum Leben erwachte und das wache REM-Stadium in seinem Kleinhirn auslöste, wodurch Saul ebenso außerstande war, sein Tun zu kontrollieren, wie ein Schlafwandler, ein wandelnder Leichnam, ein >Muselman<.
Aber noch während Sauls Bewußtsein in den dunklen Dachboden seines eigenen Verstandes gesperrt wurde, bemerkte er die Präsenz des Standartenführers in seinem Kopf, einen üblen Geruch, so beißend und schmerzhaft wie der erste Atemzug giftigen Gases. Und während er in dieser ersten Sekunde das Bewußtsein mit dem Standartenführer teilte, bemerkte Saul dessen Überraschung, als das rapide Einsetzen des REM- Stadiums den Strom von Erinnerungen und Eindrücken auslöste, die hypnotisch in Sauls Unterbewußtsein eingepflanzt waren wie Tretminen in einem Feld Wintergetreide.
Nachdem er Saul Laskis Bewußtsein beiseite geschleudert hatte, sah sich der Standartenführer plötzlich mit einer zweiten Persönlichkeit konfrontiert - eindeutig vage, hypnotisch induziert und um die empfindlichen neurologischen Kontrollzentren gewickelt wie ein bemitleidenswerter Blechanzug, der sich für eine richtige Ritterrüstung ausgab. Der Standartenführer hatte so etwas erst einmal erlebt, 1941, als Mitglied der Einsatzgruppen während der Exekution mehrerer hundert Insassen einer litauischen Nervenheilanstalt. Aus reiner Langeweile war der Standartenführer Sekunden bevor die Todesschüsse der SS- Leute das Gehirn zerfetzten, so daß der Mann taumelnd in die kalte Grube stürzte, in den Verstand eines unheilbar Schizophrenen eingedrungen. Auch damals hatte die dort eingebettete zweite Persönlichkeit den Standartenführer verwirrt, aber sie war nicht schwerer zu überwinden gewesen als die erste. Diese künstlich geschaffene zweite Persönlichkeit würde ihm keine größeren Probleme bereiten. Der Standartenführer lächelte angesichts der erbarmenswerten Vergeblichkeit der kleinen Überraschung des Juden und nahm sich ein paar Sekunden Zeit, Sauls hoffnungsloses Werk zu genießen, bevor er es zertrümmerte.
Mala Kagan, dreiundzwanzig Jahre alt, trägt ihre vier Jahre alte Tochter Edek zum Krematorium von Auschwitz und umklammert mit der rechten Hand die Rasierklinge, die sie die ganzen Monate über versteckt hat. Ein Offizier der SS drängt sich durch die Schlange der nackten, langsam vorrückenden Frauen. »Was hast du da, du Judenhure? Gib es mir. « Mala drückt ihrer Schwester das Baby in die Arme, dreht sich zu dem SS-Mann um und öffnet die Hand. »Nimm es!« schreit sie und zerschneidet ihm das Gesicht. Der Offizier schreit und taumelt rückwärts, Blut quillt zwischen seinen erhobenen Fingern hervor. Ein Dutzend SS-Männer heben die Waffen, als Mala auf sie zu geht und die kleine Rasierklinge zwischen Daumen und Zeigefinger hält »Leben!« schreit sie, als sämtliche Maschinengewehre auf
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