Kraft des Bösen
im Gegensatz zu anderen, überhaupt nicht mehr erinnern: der junge ungarische Kantor, der letzte Warschauer Rabbi, das junge Mädchen aus Transsilvanien, das am Buß- und Bettag Selbstmord begangen hatte, die Tochter von Theodor Herzl, die in Theresienstadt verhungert war, ein sechsjähriges Mädchen, das von den Frauen der SS-Wachen in Ravensbrück getötet worden war - woher kamen die? Einen furchteinflößenden Augenblick fragte sich Saul, der in der hilflosen Abgeschiedenheit seines eigenen Denkens gefangen war, ob er möglicherweise eine unmögliche Kollektiverinnerung angezapft haben konnte, die nichts mit den Hunderten Stunden sorgfältiger Hypnose und monatelangen selbstauferlegten Alpträumen zu tun hatte.
Die letzte Persönlichkeit, die der Standartenführer hinwegfegte, war die des vierzehnjährigen Saul Laski selbst, der hilflos in Chelmno stand und mit ansehen mußte, wie sein Vater und Josef davonstapften zu den Duschen. Aber dieses Mal, in den Sekunden, bevor der Standartenführer sie verbannte, erinnerte sich Saul an etwas, das sein Denken bis zu diesem Augenblick verdrängt hatte: Sein Vater, der Josef wohlbehalten in der Armbeuge hielt, drehte sich um und rief auf hebräisch: »Höre mich! O Israel! Mein ältester Sohn überlebt!« Und Saul, der vierzig Jahre lang nach Vergebung für diese eine, unverzeihlichste Sünde gesucht hatte, sah diese Vergebung jetzt im Gesicht der einzigen Person, die sie gewähren konnte - des vierzehnjährigen Saul Laski.
Saul stolperte, faßte sich und lief auf den Standartenführer zu.
Tom Reynolds griff hastig ein und streckte kräftige Hände nach Sauls Hals aus.
Saul schenkte ihm keine Beachtung, stieß ihn mit der Kraft aller, die zu seiner Unterstützung gekommen waren, beiseite, und legte die letzten fünf Schritte zurück, die ihn von dem Standartenführer trennten.
Saul sah eine Sekunde das betroffene, fassungslose Gesicht des Standartenführers, die ungläubig aufgerissenen blassen Augen, und dann war Saul bei ihm, seine Finger schlossen sich um den runzligen Hals des alten Mannes, und der Stuhl kippte rückwärts um, so daß Saul und Reynolds auf dem Standartenführer landeten.
Herr General Wilhelm von Borchert war ein alter Mann, aber seine Arme, mit denen er Saul stieß, ins Gesicht und auf die Brust drückte und im verzweifelten Versuch, sich zu befreien, in den Leib rammte, waren kräftig. Saul achtete nicht auf die Hiebe, achtete nicht auf das Knie des alten Mannes, das dieser ihm in den Unterleib rammte, achtete nicht auf die trommelnden Fäuste von Tom Reynolds, als der Handlanger ihm auf Kopf und Rücken schlug. Ihr gemeinsames Gewicht verlieh seinen ausgestreckten Armen und den Fingern, die sich um den Hals des Standartenführers legten und zudrückten, den zusätzlichen Druck der Schwerkraft. Er wußte, er würde diesen Griff niemals lösen, solange der Standartenführer noch am Leben war.
Der Standartenführer schlug zu, wand sich, krallte nach Sauls Fingern und dann nach seinen Augen. Speichel spritzte aus dem keuchenden Mund des Mannes auf Sauls Wangen. Das runzlige Gesicht des Standartenführers wurde blutrot und dann noch dunkler, während seine Brust sich hob. Saul spürte, wie eine übernatürliche Kraft durch seine Arme strömte, während sich seine Finger noch tiefer in den Hals des Standartenführers gruben. Die Absätze des alten Mannes klapperten und tanzten auf den horizontalen Beinen des umgestürzten Stuhls.
Saul bemerkte nicht, wie eine weitere Explosion die Verandatür und zwölf Meter lange Fensterreihen zertrümmerte und Glasscherben auf sie alle herabregneten. Er bemerkte nicht, wie ein zweites Geschoß die oberen Stockwerke des Herrenhauses traf, worauf sich der große Saal sofort mit Rauch füllte, als die uralten Zypressenbalken Feuer fingen. Er bemerkte nicht, wie Reynolds seine Bemühungen verdoppelte und verdreifachte und auf Saul einschlug, - prügelte, - hieb und -hämmerte wie ein irres Aufziehspielzeug. Er bemerkte nicht, daß Tony Harod knirschend durch die Scherben schritt, zwei Flaschen 1971er Dom Perignon vom Bartisch holte und eine davon Tom Reynolds auf den Hinterkopf schlug. Der Handlanger rollte von Saul herunter, bewußtlos, zuckte aber immer noch in planlosen Nervenimpulsen, die die Befehle des Standartenführers erzeugten. Harod setzte sich auf eine Fliese, machte die zweite Flasche auf und trank in großen Zügen. Saul bemerkte es nicht. Er hatte dem Standartenführer die Hände um den Hals gelegt,
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