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Kraft des Bösen

Kraft des Bösen

Titel: Kraft des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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einmal das Feuer eröffnen.
    Saul spürt die Häme und die unausgesprochenen Fragen des Standartenführers. Versuchst du, mir mit Gespenstern angst zu machen, Bauer?
    Es hatte Saul dreißig Stunden selbstinduzierter hypnotischer Anstrengungen gekostet, diese letzte Minute von Mala Kagans Existenz nachzubilden. Der Standartenführer fegte die Persönlichkeit innerhalb einer Sekunde so mühelos weg, wie man Spinnweben in einem dunklen Zimmer wegstreifen würde.
    Saul ging einen Schritt weiter.
    Der Standartenführer drang unbarmherzig wieder in Sauls Gehirn ein, griff nach den Kontrollzentren und löste mühelos das erforderliche REM-Stadium aus.
    Der zweiundsechzigjährige Shalom Krzaczek kriecht auf Händen und Knien durch die unterirdische Kanalisation von
    Warschau. Es ist pechschwarz, Exkremente regnen auf die stumme Schlange der Überlebenden herab, wenn über ihnen die >arischen< Toiletten gespült werden. Shalom ist vor vierzehn Tagen in das unterirdische Labyrinth eingedrungen, am 25. April 1943, nach sechstägigen erfolglosen Kämpfen gegen Elitetruppen der Nazis, Shalom hat seinen neunjährigen Enkel bei sich. Der Junge ist der einzige Überlebende von Shaloms weitverzweigter Familie. Seit zwei Wochen kriecht die schrumpfende Schlange der Juden durch das stinkende Labyrinth enger Kanalisationsrohre, während die Deutschen in jeden Gullydeckel und jede Latrine schießen, Feuer aus Flammenwerfern hinabregnen lassen und Giftgaskanister hinunterwerfen. Shalom hat sechs Scheiben Brot mit heruntergebracht, diese hat er sich mit Leon geteilt, wenn sie in Dunkelheit und Exkrementen Rast gemacht haben. Vierzehn Tage haben sie sich versteckt und sind gekrochen, haben versucht, die Mauern des Gettos zu überwinden und aus tropfenden Leitungen getrunken, in der Hoffnung, es wären Regenabläufe; sie haben überlebt. Jetzt wird über ihnen ein Kanaldeckel beiseite geschoben und das derbe Gesicht eines polnischen Widerstandskämpfers schaut herunter. »Kommt!« sagt er. »Kommt heraus. Hier seid ihr in Sicherheit.« Mit letzter Kraft, von Sonnenlicht geblendet, klettert Shalom hinaus und bleibt auf dem Kopfsteinpflaster der Straße liegen. Vier andere kommen heraus. Leon ist nicht dabei. Tränen laufen ihm am Gesicht herab, während Shalom sich zu erinnern versucht, wann er zum letztenmal in der Dunkelheit mit dem Jungen gesprochen hat. Vor einer Stunde? Vor einem Tag? Shalom wehrt die Hände seiner Retter erschöpft ab, klettert den dunklen Schacht hinunter, kriecht in das Rohr zurück, aus dem er gekommen ist, und ruft Leons Namen.
    Der Standartenführer zerstörte die dicke schützende Membran des Shalom Krzaczek.
    Saul ging einen Schritt weiter.
    Der Standartenführer verlagerte das Gewicht auf dem Stuhl und schlug mit der geistigen Kraft einer stumpfen Axt zu, die Sauls Schädel spaltete.
    Der siebzehnjährige Peter Gine sitzt in Auschwitz und malt, während eine lange Schlange Jungs an ihm vorbei zu den Duschen zieht In den vergangenen zwei Jahren haben Peter und seine Freunde in Terezin ein Nachrichtenblatt produziert, Vedem - >Wir führen< - das er und andere junge Künstler mit Gedichten und Zeichnungen gefüllt haben. Als letzte Tat vor dem Abtransport hat Peter die ganzen achthundert Seiten an den jungen Zdenek Taussig weitergegeben, damit dieser sie in der alten Schmiede hinter den Baracken von Magdeburg versteckt. Peter hat Zdenek nicht gesehen, seit die Jungen in Auschwitz eingetroffen sind. Jetzt nimmt Peter sein letztes Blatt Papier und den Stummel Kohle und macht eine Skizze der endlosen Schlange nackter Jungs, die in der Novemberkälte an ihm vorbeiziehen. Mit kühnen, sicheren Strichen fängt Peter die vorstehenden Rippen und aufgerissenen Augen ein, die zitternden, knochigen Beine und Hände, die schamhaft über vor Angst geschrumpfte Genitalien gehalten werden. Ein Kapo mit warmer Kleidung und einem Holzknüppel kommt näher. »Was ist das?« will er wissen. »Geh zu den anderen. « Peter sieht nicht von seiner Zeichnung auf. »Einen Augenblick«, sagt er. »Ich bin fast fertig.« Der wütende Kapo schlägt Peter mit dem Knüppel ins Gesicht und tritt ihm mit dem Absatz auf die Hand, wobei er d-ei Finger bricht. Er packt Peter an den Haaren, zieht ihn auf die Füße und stößt den Jungen in die langsam vorrückende Schlange. Peter hält sich die Hand, dreht sich um und sieht, wie seine Skizze vom steifen Novemberwind hochgewirbelt wird, kurz am obersten Strang Stacheldraht des hohen Zauns

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