Kraft des Bösen
einen Blick auf die Sachen neben sich, schaltete das Automatikgetriebe auf Fahrt, ließ aber den Fuß auf der Bremse. Einmal, als sie etwa sieben gewesen war, hatte ein Freund sie herausgefordert, vom Sprungbrett des städtischen Freibads zu springen. Das Sprungbrett, auf das der Freund gedeutet hatte, war das höchste von sechs, drei Meter über dem zweithöchsten, auf einem Sprungturm, der Erwachsenen und Kunstspringern vorbehalten war. Natalie konnte kaum schwimmen. Nichtsdestotrotz hatte sie sich sofort aus dem flachen Ende gezogen, war tapfer an einem Bademeister vorbeigegangen, der sich so angeregt mit einem Teenagermädchen unterhielt, daß er die Siebenjährige gar nicht bemerkte, die scheinbar endlose Leiter hinaufgestiegen, zum Ende des schmalen Bretts gegangen und in einen Pool gesprungen, der so weit unten lag, daß er durch die Entfernung wie geschrumpft wirkte.
Natalie hatte damals wie heute gewußt, daß man es nie fertigbrachte, wenn man darüber nachdachte, daß man es nur bewerkstelligen konnte, indem man seinen Verstand gründlich leerte und keinen Gedanken an das weitere Vorgehen verschwendete, bis man es ausgeführt hatte. Aber als sie jetzt anfuhr und die stille Straße entlang beschleunigte, kam ihr derselbe kurze Gedankenfetzen wie damals, als sie von dem Sprungbrett gesprungen war und gewußt hatte, jetzt gab es kein Zurück mehr - Tue ich das wirklich?
Seit der Rückkehr der alten Dame war eine zwei Meter hohe Backsteinmauer um das Fuller-Anwesen gezogen worden, und auf dieser Mauer befand sich zusätzlich ein ein Meter zwanzig hohes schmiedeeisernes Gitter. Aber das ursprüngliche schmiedeeiserne Tor war erhalten geblieben, mit neunzig Zentimetern Eisengitter auf beiden Seiten. Das Tor war mit einem Vorhängeschloß abgesperrt, aber an den Seiten nicht allzu tief einbetoniert. Natalies Kombi fuhr dreißig Stundenmeilen, als sie scharf nach rechts steuerte, mit einem Ruck über den Bordstein schoß, daß ihre Zähne aufeinanderschlugen, und durch das schwarze Schmiedeeisen brach.
Der obere Teil des Tors stürzte herunter und verwandelte die Windschutzscheibe in ein Netz weißer Risse, der rechte Kotflügel streifte den Stuckspringbrunnen und wurde abgerissen, das Fahrzeug schlingerte durch den Hof, durch Büsche und Zwergbäume und raste in die Fassade des Hauses.
Natalie hatte vergessen, den Sicherheitsgurt anzulegen. Sie wurde nach vorn geschleudert, stieß sich den Kopf an der Windschutzscheibe an, prallte auf den Sitz zurück, sah Sterne und glaubte, sich übergeben zu müssen. Zum zweitenmal innerhalb von drei Stunden hatte sie sich so fest auf die Zunge gebissen, daß sie Blut schmeckte. Die Waffen, die sie so sorgfältig auf dem Sitz ausgebreitet hatte, lagen auf dem Boden verstreut.
Toller Auftakt, dachte Natalie benommen. Sie beugte sich nach vorn, um Colt und Pfeilpistole aufzuheben. Die Schachtel mit den Pfeilen war irgendwo unter den Sitz gerollt, ebenso die Ersatzmagazine für die Automatik. Und wenn schon, beide waren geladen.
Sie trat die Tür auf und stieg im Halbdunkel vor der Dämmerung aus. Die einzigen Geräusche stammten vom Wasser, das aus dem zertrümmerten Springbrunnen floß und aus dem geplatzten Kühler des Autos tropfte, aber sie war sicher, ihr Eindringen mußte so laut gewesen sein, daß der halbe Block aufgewacht war. Ihr blieben nur noch Minuten, um zu tun, was getan werden mußte.
Sie hatte vorgehabt mit tausendfünfhundert Kilo Automobil an der Eingangstür anzuklopfen, diese aber um sechzig Zentimeter verfehlt. Mit der 32er Pistole im Gürtel und der Pfeilpistole in der rechten Hand versuchte sie, die Tür aufzumachen. Vielleicht würde Melanie es ihr leichtmachen.
Die Tür war abgeschlossen. Natalie erinnerte sich, daß sie ein ganzes Arsenal Schlösser und Riegel an der Innenseite gesehen hatte.
Sie legte die Pfeilpistole auf das Dach des Kombis, holte die Axt vom Rücksitz und bearbeitete damit die Türangeln. Nach sechs kräftigen Hieben flossen Natalie Schweiß und Blut vom Aufprall auf der Windschutzscheibe in die Augen. Nach acht Hieben splitterte das Holz um das untere Scharnier. Nach zehn Hieben riß die schwere Tür aus und kippte nach innen, war aber nach wie vor mit Ketten und Riegeln mit dem linken Türflügel verbunden.
Natalie keuchte, widerstand dem neuerlichen Impuls, sich zu übergeben, und warf die Axt ins Gebüsch. Immer noch kein Heulen einer Sirene oder Anzeichen von Bewegung im Haus. Das grüne Leuchten aus dem ersten Stock
Weitere Kostenlose Bücher