Kraft des Bösen
auf den Startknopf drückte. Sie sah auf den EEG-Monitor. Das grüne Kontrollicht blinkte noch; der Auslöser war noch mit dem Zünder des C-4 verbunden. Sie wartete noch einmal zwanzig Sekunden, damit die alte Frau handeln konnte, wenn sie es vorhatte.
Stille.
Natalie sah auf den Absatz. Ein einziger Bentwood-Stuhl stand neben der Tür von Melanies Schlafzimmer. Natalie wußte sofort und mit irrationaler Gewißheit, daß dort Mr. Thorne lange Jahre seine Nachtwache gehalten hatte. Sie konnte nicht um die Ecke und den dunklen Flur entlang sehen, der vom Treppenabsatz zum hinteren Teil des Hauses führte.
Natalie hörte unten ein Geräusch, sah aber nur drei Gestalten auf dem Boden liegen. Culley war nach vorn gesunken und hatte ein leises Geräusch erzeugt, als seine Stirn den polierten Holzboden berührte.
Natalie drehte sich wieder um, hob den Colt und betrat den Treppenabsatz.
* Sie rechnete mit einem Angriff aus dem dunklen Flur, hatte sich schon darauf eingestellt, und feuerte die Pistole beinahe in das undurchdringliche Dunkel, obwohl niemand kam.
Der Flur war verlassen, die Türen geschlossen.
Natalie drehte sich wieder zur Tür von Melanies Schlafzimmer um, hatte den Finger um den Abzug gespannt und den linken Arm mit dem schweren C-4-Gürtel leicht erhoben. Irgendwo unten tickte eine Uhr.
Vielleicht warnte ein Geräusch sie, vielleicht ein sanfter Lufthauch an der Wange, auf jeden Fall veranlaßte eine unterbewußte Eingebung sie, in diesem Augenblick nach oben zu sehen, zu der drei Meter hohen Decke, die im Schatten lag, und zu dem dunkleren Rechteck da oben - einer kleinen, offenen Falltür zum Dachboden -, wo der verkrampfte, sprungbereite Körper bereit war, auf sie herabzuspringen, das Gesicht des Sechsjährigen irre grinste, die Hände zu Klauen und die Finger zu Krallen geformt waren, an denen sich das grüne Leuchten auf scharfkantigem Stahl spiegelte.
Natalie feuerte die Pistole nach oben, während sie versuchte, zur Seite zu springen, aber Justin ließ sich mit einem lauten Zischen fallen, die Kugel traf nur Holz, und seine Stahlkrallen rissen ihr den rechten Arm auf und den Colt aus ihrer Hand.
Sie torkelte rückwärts und hob den Arm mit dem C-4-Gürtel als Schild. Als sie ein kleines Mädchen gewesen war, war Natalie an jedem Halloween zu dem Billigladen an der Ecke gegangen und hatte sich >Hexenkrallen< gekauft, Fingerspitzen aus Wachs mit sieben Zentimeter langen Fingernägeln aus Wachs. Justin trug zehn derartige. Aber die Fingerspitzen waren aus Stahl, die Nägel zehn Zentimeter lange Skalpelle. Ungewollt sah Melanie das Bild vor sich, wie Culley oder ein anderes Surrogat von Melanie Fuller diese Stahlklauen herstellte, sie mit geschmolzenem Blei füllte und zusah, wie das Kind die Finger in das geschmolzene Blei steckte und darauf wartete, bis es abkühlte und hart wurde.
Justin sprang auf sie zu. Natalie wich an die Wand zurück und ließ instinktiv den linken Arm erhoben. Justins Klauen gruben sich tief in den Gürtel, acht Stilette, die durch Segeltuch, Plastikverstärkung und den Plastiksprengstoff C-4 selbst drangen. Natalie knirschte mit den Zähnen, als die beiden letzten Klingen die Haut ihres Unterarms aufschlitzten.
Mit einem unmenschlichen, triumphierenden Zischen riß Justin den Gürtel mit dem Sprengstoff von Natalies Arm und warf ihn über das Treppengeländer. Natalie hörte das dumpfe Poltern unten in der Diele, als zwölf Pfund unschädlicher Sprengstoff auf dem Boden aufschlugen. Sie sah auf den Boden und erblickte den Colt, der zwischen zwei senkrechten Streben des Geländers lag. Sie machte einen halben Schritt darauf zu, erstarrte aber, als Justin zuerst sprang und die Pistole mit einem raschen Tritt seines blauen Ked-Turnschuhs über den Rand beförderte.
Natalie machte eine Finte nach links, sprang nach rechts und versuchte, die Treppe zu erreichen. Justin machte einen Sprung, stellte sich ihr entgegen und drängte sie zurück, aber Natalie konnte gerade noch Culley sehen, der sich die Treppe heraufzog und mit dem vierschrötigen Körper das ganze Treppenhaus blockierte. Er hatte ein Drittel des Weges zurückgelegt. Und er hinterließ eine Blutspur.
Natalie drehte sich um und wollte den kurzen Flur entlanglaufen, hielt dann aber inne und überlegte sich, daß das wahrscheinlich genau das war, was die alte Frau von ihr wollte. Gott allein mochte wissen, was in diesen dunklen Zimmern auf sie lauern mochte.
Justin bewegte sich rasch auf sie zu, seine
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