Kramp, Ralf (Hrsg)
Abreißen wurde man ja eher weniger. Das hatte auf Gisela nicht zugetroffen. Sie hatte Jahresringe angelegt, während er sich gerne als Herbstzeitloser sah.
Auf dem Foto, das Natascha ihm hatte zukommen lassen, konnte man außer einer Menge heller Haare und einem Stück halbnackter Schulter keine weiteren Einzelheiten erkennen, aber das machte nichts. Seine Fantasie und ihre Beschreibung reichten ihm voll und ganz aus. Natascha hatte geschrieben, sie sei fünfundzwanzig, schlank und vollbusig und suche einen starken Mann. Das mit dem Herrn und Meister hatte er erst später verstanden, als Natascha deutlicher und es ihm beim Lesen ganz heiß geworden war. Das Buch, von dem sie ständig schrieb, hatte er sich erst nach langem Zögern zugelegt und nur schwer die vielsagenden Blicke seiner Buchhändlerin ausgehalten. Den plüschig-schwülstig roten Umschlag hatte er hinter einem von Giselas gehäkelten Schutzumschlägen versteckt, während er darin in der U-Bahn auf dem Weg zur Arbeit las. Zu Anfang hatte er sich geschämt. Über das, was er da las. Es kamen Gerten darin vor, aber es war kein Reitbuch. Auch von festen Knoten war die Rede, und Heinzwerner war froh um seine Segelkenntnisse, die er hier auf völlig neue Art zum Einsatz bringen konnte. Verträge, Regeln und Vorschriften. Streng und kompromisslos. Ganz anders, als die, die er seit Jahrzehnten bei seiner Arbeit als Versicherungsfachangestellter bearbeitete. Die Heimlichkeit und Eile des Mailverkehrs mit Natascha erhöhte den Reiz, machte ihn ganz wuschig. Gisela hatte ihm auf die Arbeit höchstens mal eine Mail mit dem Hinweis auf ein bevorstehendes Abendessen bei Freunden oder ein Treffen im Tierschutzverein gesandt.
In Nataschas Mails kamen auch Tiere vor, allerdings in völlig anderen Zusammenhängen. Mehr als einmal musste er rasch etwas anderes auf dem Bildschirm aufrufen, um dann, sobald sein Vorgesetzter wieder verschwunden war, mit fiebrigen Fingern eine Antwort an Natascha zu verfassen. Oh, süßer Schmerz.
»Ein wenig Farbe würde Ihnen auch gut stehen.« Frau Näckel zog einzelne Haarsträhnen nach oben. »Das macht das Haar auch voller.« Heinzwerner nickte stumm. Die Frau sah nicht nur aus, als ob sie wusste, was sie tat, sondern auch noch ausgesprochen gut. Kurz überlegte er, ob es denn auch einen Herrn Näckel oder Herrn Müller gab – so ganz hatte er die Namensverhältnisse auf die Schnelle nicht begriffen – jetzt wo er sozusagen wieder frei war. Aber dann dachte er wieder an Natascha, die in weniger als zwei Stunden hier am vereinbarten Ort eintreffen würde.
Villa Verde, so hieß das Gästehaus, in dem er ein Appartement für sein Vorhaben gemietet hatte. zuerst hatte er an ein Hotel in der Stadt gedacht, aber dann war ihm der Gedanke gekommen, das Angenehme mit dem Nützlichen zu kombinieren. Und Gisela stand nun mal auf Natur und Wandern und Tiere beobachten. Ein hübscher Ort in der Eifel kam ihm da sehr gelegen. Als er ihr von Kelberg erzählt hatte, war sie direkt Feuer und Flamme gewesen und der festen Überzeugung, dieses Wochenende hätte ihnen beiden sicher neuen Schwung und frischen Wind in ihre Beziehung bringen können. Ausnahmsweise hatte Heinzwerner Gisela zugestimmt. Die Zimmer der Villa Verde hatten bereits im Internet einen sehr guten Eindruck auf ihn gemacht, und als er schließlich vor Ort angekommen war, war er mit allem sehr zufrieden gewesen. Die Einrichtung des Appartements war hell und freundlich und hatte so gar nichts von rustikaler Gemütlichkeit, die er in dieser Ecke des Landes ja viel eher befürchtet hatte. Die Pensionswirtin, Irmgard Holtkotte, eine fröhliche Person mit ungeheurer Energie, sprudelte über vor Ideen zu möglichen Ausflügen und Tipps für seinen Aufenthalt. Er hatte sofort ein schlechtes Gewissen bekommen, als er an die häßlichen Auswirkungen seines Vorhabens auf die frisch renovierten Wände und den nagelneuen Boden der Ferienwohnung dachte, und änderte kurzfristig einige Details des Plans. Dank Irmgard Holtkotte fand er problemlos den örtlichen Supermarkt und organisierte noch rasch eine Plastikplane. Anschließend schlenderte er entspannt durch den Ort, trank einen Kaffee beim Bäcker auf dem Marktplatz, bestaunte den regen Verkehr durch die Ortsmitte und bewunderte die absolute Ordnung auf dem Kelberger Friedhof. Alle Gräber militärisch in Reih und Glied, die Grabsteine sorgsam ausgerichtet. Frische Blumen, brennende Kerzen. Das gefiel ihm sehr gut, und er bedauerte es ein
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