Kramp, Ralf (Hrsg)
immer noch, dass du deinen Wahnsinn endlich begreifst.«
»Ich meinen Wahnsinn?«
»Du hättest so ein wunderbares Leben mit Julia führen können. Ihr hättet Kinder haben können. Ich weiß, dass meine Schwester sich nie etwas anderes gewünscht hat. Aber du musstest dich ja unbedingt in diese ... Geschichte verbeißen.«
»Ein Mensch ist gestorben.«
»Wenn wir bei deiner Argumentation bleiben, sogar zwei. Denn dann würde ich Julias Krebs auf deine Lieblosigkeit zurückführen. Wie schmeckt dir das?«
»Unfug!«, wies Carstens die Behauptung zurück.
»Mir ist das klar. Aber weißt du das auch?!« Die Stimme des Anderen war plötzlich so nah, als stünde sie im Raum.
Carstens hängte unvermittelt den Hörer ein und zündete die festgeklopfte Rote Hand an. Er musste sich das nicht anhören. Julia
hatte
ein glückliches Leben gehabt! Auch ohne Kinder. Ohne gemeinsame Abende vor dem Fernseher. Ohne die leidenschaftlichen Küsse vor dem Zubettgehen. Ohne die Urlaube in Italien, von denen sie ihn immer wieder zu überzeugen versucht hatte. Auch nach dem vollständigen Bruch mit ihrer beider Familien, weil er loslassen sollte. Magda loslassen. Julia hatte ihn geliebt, und sie durfte bei ihm sein. War das nicht mehr, als er vom Leben bekommen hatte?
Er sah auf seine Uhr und wartete die Zeit ab, die es dauern würde, in die Poststelle zu gehen und den Kuchen zu holen. Um die Deckenlampe herum hatte sich ein dicker Nikotinstreifen eingebrannt, der vermutlich nicht mehr wegzurenovieren war. Aber wenn er morgen um neun
a.D
. war, würde es für den Hausmeister weit mehr zu tun geben als nur das. Er sah erneut auf die Uhr. Diesmal schaltete er das Tonband an, griff noch einmal zum Hörer seines Diensttelefons und drückte mit dem Daumen die Taste der Wahlwiederholung.
»Hallo?!«, meldete sich der Andere wieder.
»Ich hab den Kuchen gefunden.«
»Carstens? – Na? Wieder eingekriegt?«
»Ich will nur kurz Danke sagen.«
»Hab ich doch gern gemacht!«
»Ich hab überlegt, ihn morgen auf der Feier anzuschneiden.«
Der Andere sagte noch etwas, aber Carstens ließ den Hörer bereits wieder in die Gabel fallen. Seine verkrümmten Fingerglieder bekamen die Cassette kaum aus dem Gerät, bevor er sie zu Magdas Akte auf der Schreibtischmitte packte. Sein Nachfolger würde sie morgen finden. Ein guter Beamter vermutlich. Ein sauberer. Der – ganz menschlich – versuchen würde, in all dem einen Sinn zu erkennen.
Morgen. Fast schon heute, dachte Carstens und packte die übrig gebliebenen Elektronikbauteile in die Papiertüte mit der Kuchenfüllung. Die elf dumpfen Schläge der Kirchturmuhr verrieten ihm, dass er noch runde neun Stunden hatte, sie verschwinden zu lassen, damit der Verdacht nicht auf ihn zurückfiel.
Morgen. Fast schon heute. Wenn sogar der falsche Hund von Landrat zu seiner Verabschiedung in die Kantine kam. Wenn der Andere sich einigen mehr als unangenehmen Fragen wegen eines Bombenattentats stellen musste – schätzungsweise eine oder zwei Stunden, nachdem Carstens mit dem Messer in den Kuchen eingedrungen war, den Kontaktschalter ausgelöst hatte und sich seine Eingeweide und Metastasen bereits wieder von den Wänden schälten.
Magda materialisierte sich abermals im blauen Dunst. Magda, 22 Jahre, lachend. Seine erste Liebe. Seine einzige. Sie hätte ihn niemals verlassen.
50 Shades of Kelberg
E LKE P ISTOR
Heinzwerner Morschenbroich trommelte nervös mit den Fingerspitzen. Sein Gegenüber verfolgte jede Bewegung aus den Augenwinkeln, verharrte, lauerte. Heinzwerner spürte den Schweiß in seinen Poren brodeln. Lava in einem Vulkan. Er ahnte, was ihm bevorstand. Unbehagen. Pein. Leid. Aber nein, das hier wäre kein süßer Schmerz, das hier wäre ... Er blinzelte. Wie hieß der Kerl? Walter? Er hatte den Namen gehört, als er den Raum betreten hatte. Im Vorbeigehen. Und hatte ihm keine Bedeutung beigemessen. Heinrich? Wie hätte er denn auch ahnen können, dass es ihn so erwischen würde. Jetzt wünschte er sich, besser zugehört zu haben. Trotz allem, was geschehen war. Seine Augen brannten. Eine eiserne Hand legte sich um seine Kehle, drückte zu und schnürte ihm die Luft ab. Er röchelte, rutschte unruhig hin und her und versuchte unauffällig, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und den gegenüberstehenden Stuhl zu bringen. Die schwarzen Pupillen des Anderen verengten sich auf Stecknadelgröße, fixierten ihn, schienen auf jede falsche Bewegung zu lauern. Die Haare auf Heinzwerners
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