Kramp, Ralf (Hrsg)
grau, untermischt mit Flecken, die eindeutig schwarz waren. Wahrscheinlich hatte Otto sie geschlagen, als er sie zu töten versuchte, und sie sich wehrte, so gut sie es vermochte. Sie trug eine durchsichtige weiße Bluse, ihre Brustwarzen waren gut zu sehen. Er machte einen weiteren Schritt nach vorn und ging in die Hocke. Alle vier toten Frauen trugen winzige kurze Hosen, Arbeitskleidung eben.
Auf was saßen sie eigentlich?
Alschowski ging in den Raum hinein und bückte sich weit nach unten und nach vorn. Otto hatte Hocker für sie gebaut und hatte sie mit Stricken darauf festgebunden.
Er richtete sich wieder auf und bekam einen neuen Würgeanfall.
»Er hat sie auf Hocker gebunden«, berichtete er sachlich. »Sie sitzen da tot am Tisch. Otto sitzt auf einem Sessel vor ihnen. Wahrscheinlich spricht er mit ihnen. Hast du die Polizei verständigt?«
»Ja«, sagte Olga, und es klang so, als weine sie. »Sie sind schon unterwegs. Du hast jetzt gut zwanzig Menschen vor der Scheune stehen.«
»Da beschließe ich mal, dass mir das scheißegal ist. Auf ein Betttuch im Rücken der Toten hat er einen Spruch geheftet. Und jetzt sehe ich, dass jede Tote vor sich ein Namensschild stehen hat. Wie bei einem Fernsehtalk.«
»Komm jetzt da raus! Hör sofort auf damit!«, rief Olga, und jetzt weinte sie deutlich.
Alschowski las die Namensschilder von rechts nach links. Sie waren in schwarzen Buchstaben auf Pappe geschrieben. Otto war das Schreiben nicht gewohnt, die Schrift war ungeübt und krakelig.
Er las »Mutter Maria«, »Magdalena«, »Veronika«, »Hildegard v. B.«. Das Letzte hieß wahrscheinlich »Hildegard von Bingen«. Otto war für seine Verhältnisse eng an der Mutter Kirche. Er fragte sich, was er den toten Frauen für Fragen stellte. Ob er sie überhaupt etwas fragte, oder ob er sich einfach still über sie freute. Dann fragte er sich plötzlich, wieso diese toten Frauen an dem Tisch saßen und ihre Köpfe nicht vornüber kippten. Otto hatte auch das sehr gut gelöst. Von den Köpfen der toten Frauen spannten sich kaum erkennbare Fäden zur Decke und endeten dort an einem Haken. Sehr logisch, dachte er.
Ein Mann fragte von draußen mit lauter, dröhnender Stimme: »Können Sie uns eine Türe öffnen?«
»Das kann ich nicht«, antwortete er.
»Dann gehen Sie bitte von dem Scheunentor weg!«, befahl die Stimme.
Er ging ein paar Schritte zur Seite. Es gab einen dröhnenden Schlag, und das Tor schwang auf.
Da standen Polizisten in Uniform und sahen ihn neugierig an.
Alschowski sagte in das Gesicht eine unglaublich dicken Frau: »Guten Abend. Mein Name ist Wilhelm Alschowski. Ich bin Ihr neuer Nachbar!«
Die Bedrohung
M IRIAM M OHNITZ
Er legte sein iPad beiseite und starrte für Sekunden einfach nur auf seine Hände. Klavierspielerhände. Seine langen, schlanken Finger, die schöne Formung seiner Fingernägel. Fast unnatürlich weiße Fingernägel. Jemand hatte einmal spaßhaft angemerkt, sie sähen aus wie lackiert. Er strich mit dem zeigefinger über die nach wie vor eingedellte Stelle seines linken Ringfingers. Ein natürlicher Ring, über Jahre geformt. Platzhalter für immer.
Er konnte diese Stelle so oft kneten, rubbeln, drücken wie er wollte, die Einkerbung blieb. Unbeabsichtigt hatte er sich seit jenem Tag angewöhnt, seine linke Hand zu verstecken. In seiner Hosentasche, hinter seinem Rücken oder einfach nur in der Handfläche seiner Rechten. Jeden Morgen wanderte sein Blick als Erstes auf diese Stelle. Jede Nacht galt sein letzter Blick dieser Bedrohung.
Seit diesem verfluchten Abend schlief er kaum noch. Vorbei waren die zeiten, in denen er binnen Sekunden eingeschlafen und erst am nächsten Morgen gut erholt wieder aufgewacht war. zum Unmut seiner Frau hatte er früher nicht einmal die Babys gehört, als diese nachts schrien. Sogar Gewitter hatte er verschlafen. Wenn es hochkam, schlief er jetzt vielleicht ein, zwei Stunden am Stück. Oft erst in den frühen Morgenstunden. Auch jetzt noch, nach fast einem Jahr. Die Angst war überall, kroch in seine Eingeweide, Nacht für Nacht. Anstatt besser wurde es nur noch schlimmer. Und jetzt dieser Artikel. Sein Herz raste. Er begann zu schwitzen. Nervös erhob er sich von seinem ledernen Schreibtischstuhl, ging um den großen Eichenschreibtisch herum und trat an das Fenster seines Büros im 14. Stock. Er liebte diesen Blick auf das Hafenbecken und die angrenzenden Bürogebäude. Architektonisch eine der bemerkenswertesten Lagen in Düsseldorf.
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