Kramp, Ralf (Hrsg)
Mörder.
»Au!«
»Ja, das tut jetzt ein bisschen weh«, sagte der Schmied. »Aber du kannst von Glück sagen, dass es nur ein Streifschuss gewesen ist.«
»Er hat auf mich geschossen! Warum hat dieser Kerl auf mich geschossen?«
»Mattes hat geglaubt, dass du ein Gespenst bist«, sagte der Schmied. »Jetzt halt still, damit ich dich vernünftig verbinden kann.«
»Und die Maria ... du sagst, sie ist tot?«
»Ja, schon ein Jahr nachdem du fort bist. Sie hat die ganze Zeit gehofft, dass du kommen würdest, um sie zu holen. Aber sie war kein sehr kräftiges Mädchen, weißt du, und der Hungerwinter, der hat ihr den Rest gegeben.«
»Deshalb ist sie nicht gekommen! Der Brief – ich hatte den Brief für sie bei dir unter der Haustür hindurchgeschoben. Aber sie ist nicht gekommen. Ich habe am vereinbarten Treffpunkt gewartet, zwei Tage lang, aber sie ist nicht gekommen.«
»Nein, du bist zu spät gekommen. Und deinen Brief, den habe ich lieber ins Feuer geworfen, bevor ihn noch jemand findet. Wenn sie wissen, dass du hier bist, nehmen sie dich fest, und es wäre mir lieb, wenn sie dich nicht ausgerechnet bei mir finden.«
Peter Ziehls war verzweifelt. »Ich wünschte, der Regmüller hätte besser gezielt! Ich wünschte, ich wäre tot! Es hat alles keinen Sinn mehr!«
Der Schmied schüttelte den Kopf. »Leben hat immer einen Sinn. Du hast einiges gutzumachen in deinem Leben. Du fährst jetzt zurück nach Amerika und machst das weiter, was du angefangen hast. Als Müller in Amerika kannst du jedenfalls mehr Gutes tun als als Toter in Deutschland. Ich wünsche dir viel Glück dabei.«
Dies ist nun also, was sich wirklich abgespielt hat damals in der Rutschmühle. So wie ich es hier aufgeschrieben habe, habe ich alles von meinem Großvater erfahren. Und der war der Schwiegersohn des Schwiegersohns des alten Mattes Weber, der damals auf den Marder geschossen hat. Alles ist wahr. So wahr ich der uneheliche Urenkel des Pfarrers von Schutz bin!
So ein Mist!
C AROLA C LASEN
Kein Auto parkte im Hof. Kein Bewegungsmelder, weder optisch noch akustisch, verriet den Eindringling. Hinter den Fenstern der wenigen Häuser im nahen Umkreis brannte kein Licht. Der Reiterhof lag in nächtlichem Frieden.
»Pst«, machte der Mann, als er an die zweite Box des Offenstalls trat. Leise schnaubte das Pferd, näherte sich der Tür und schlug mit dem Huf dagegen. Der Mann stellte seinen Rucksack ab, holte die beiden Stricke heraus und streckte dem Tier seine flache Hand entgegen, auf der ein Zuckerstück weiß im Mondlicht glitzerte. Mit seinem weichen Maul schabte das Pferd das Zuckerstück auf und zermahlte es mit seinen Backenzähnen.
Der Mann, der sich zur Zeit Jost nannte, streichelte der Stute die Stirn. Sie schlackerte mit den Ohren und blähte die Nüstern. Seine Hand fuhr über ihren Hals und ertastete das lederne Stallhalfter, das sie auch vor zwei Wochen getragen hatte, als Jost das Gelände des Reitsportvereins Gerolstein zum ersten Mal nach all der Zeit wieder betreten hatte.
Er hatte sich an jenem Tag als harmloser Wanderer ausgegeben und entsprechend eingekleidet. Verstaubte Wanderstiefel an den Füßen, ein voller Rucksack auf dem Buckel, die gezückte Wanderkarte in der Hand, gab er vor, nach dem Eifelsteig zu suchen. Er trug einen Wetterhut, dessen breite Krempe er tief ins Gesicht gezogen hatte, und er hatte sich einen Bart wachsen lassen. Sicherheitshalber.
Er bekundete allgemeines Interesse und fand dabei nicht ganz zufällig heraus, welches das wertvollste Pferd im Stall war. Es stand in der zweiten Außenbox und war ein Zweibrücker, eine fünfjährige Fuchsstute mit einem fingernagelgroßen Abzeichen auf der Stirn, einer Flocke. So weit Jost sehen konnte, hatte sie sonst keine weiteren Abzeichen, nicht einmal eine weiße Fessel. Gut, je weniger auffällig sie war, umso besser. Sie sei etwa 15.000 Euro wert, erklärte man ihm. Das war nicht gerade viel, aber immerhin. Sie hatte Preise gewonnen. Sie sei ein flinkes, fügsames Pferd, das alle auf dem Hof liebten, es vertrug sich mit jedem, Pferd und Mensch, ein echter Sonnenschein. Sunshine hieß sie.
»Sunshine«, flüsterte Jost und versuchte die beiden Stricke mit Panikhaken an beiden Seiten des Stallhalfters festzumachen. Sunshine wackelte mit dem Kopf, machte einen Schritt vor, einen zurück. »Ruhig«, beschwor er sie. Sie stupste ihn an, bettelte um ein weiteres Zuckerstück. »Gleich«. Er zog die Stalltür langsam auf und schnalzte mit der Zunge.
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