Kramp, Ralf (Hrsg)
war schon damals nicht ganz geheuer, als die noch in der Mühle wohnten!«
Der Pfarrer schien nicht überzeugt.
»Da war die Geschichte mit der Sau. Mit der Sau und den Ferkeln. Die sind eines Tages den Weg hinaufgelaufen in Richtung Rutschmühle, aber zurückgekommen sind am Ende nur die Ferkel. Die Sau war und blieb verschwunden.«
Der Pfarrer kannte diese Geschichte. Wenn man einmal davon absah, dass normalerweise die Sauen mit ihren Ferkeln nicht nach Belieben auf größere Waldspaziergänge gingen, so gab es für das Verschwinden der Sau sicher eine natürliche Erklärung. Die beiden Müller könnten das Tier eingefangen und geschlachtet haben. Warum sie die Ferkel hatten laufen lassen, wusste der Pfarrer natürlich nicht.
»Hexerei«, sagte Mattes Weber.
»Es gibt keine Hexerei!« Der Pfarrer wusste, dass die beiden Rutschmüller sich als Heiler versucht hatten. Sie hatten simple Bauchschmerzen durch Handauflegen geheilt und Warzen verschwinden lassen. Er war eingeschritten, als ihm zu Ohren gekommen war, dass dabei auch das Symbol des Kreuzes verwendet worden war. Die Müller hatten seine Standpauke über sich ergehen lassen, demütig genickt und versprochen, es solle nie wieder vorkommen.
Der Regmüller zuckte mit den Achseln. Er wusste natürlich, dass es doch Hexerei gab. Er selbst hatte die Rutschmühle aufgesucht, damals, als er den schlimmen Daumen hatte. Der ältere der beiden Brüder hatte ihn behandelt. Er hatte gesagt: »Mit Kreuz ist es verboten, aber ohne Kreuz hilft es nicht.« Mattes Weber hatte sich mit Kreuz behandeln lassen und geschworen, zu niemandem darüber zu reden.
Inzwischen waren sie bei der Mühle angelangt. »Hier hat er gesessen, der Marder.«
»Ja«, sagte der Pfarrer. Er hatte keinen Zweifel daran, dass der Regmüller einen Marder gesehen und auf einen Marder geschossen hatte.
»Und weiß ist er gewesen! Das ist doch nicht normal! Hat jemand schon mal etwas von einem weißen Marder gehört? Der Teufel ist das gewesen, nichts anderes als der Teufel!«
Der Pfarrer unterließ es, diese Behauptung zu kommentieren. Er war ein belesener Mann, und im Gegensatz zum Müller wusste er, dass es in der Natur bei vielen Tieren gelegentlich weiße Exemplare gab, auch bei Mardern.
Der Müller zeigte dem Pfarrer, wo er gestanden hatte, wo der Marder gesessen hatte, und wie er auf ihn geschossen hatte. Und wie dann wie von Geisterhand der Marder verschwunden war und direkt hinter ihm im Fenster für den Bruchteil einer Sekunde ein Mensch erschienen war: der Rutschmüller. Der Geist des Rutschmüllers.
Der Pfarrer sagte sich, dass es abgesehen von der Tatsache, dass sich Marder für gewöhnlich nicht in Menschen verwandelten, ziemlich unwahrscheinlich sei, dass diese Umwandlung auch noch von einem Tier außerhalb des Hauses in einen Menschen innerhalb des Hauses passiert sein sollte. »Ich würde mir gern einmal den Raum ansehen, in dem das passiert ist.«
Die Mühle war noch nicht bewohnt, die Renovierung noch nicht abgeschlossen. Obwohl es inzwischen fast Mittag war, war es im Inneren ziemlich dunkel. Der Pfarrer ließ sich einen Leuchter reichen, entzündete die Kerzen und ging vorsichtig nach drinnen. Es war der Raum, in dem sich das Mahlwerk befand. Direkt unterhalb des zerschossenen Fensters gab es einen dunklen Fleck am Fußboden. Der Pfarrer bückte sich und inspizierte diesen Fleck. Es war Blut. Jemand hatte sich in der Mühle aufgehalten, hatte ein Geräusch gehört, den Marder auf dem Mühlrad nämlich, hatte sich aufgerichtet, die Kerze in der Hand, um nachzusehen, was da los sei. Und in dem Augenblick hatte ihn der Schuss des Regmüllers getroffen.
»Blut«, sagte der Regmüller, der inzwischen auch mutig hinzugetreten war.
»Ja.« Dem Pfarrer war klar, dass es sich nicht um den älteren, sondern den jüngeren der beiden Brüder gehandelt hatte. Der ältere war ja tot, erschlagen und begraben. Der Mörder hatte es offenbar in Amerika nicht mehr ausgehalten; er war nach Schutz zurückgekehrt, möglicherweise um seine Maria zu treffen. Ins Dorf konnte er nicht gehen; so hatte er sich in der unbewohnten Rutschmühle versteckt. Aber sein Plan war nicht aufgegangen. Seine Maria würde er nicht nach Amerika nachholen können, seine Maria war tot. Sie hatte dem Pfarrer ihr schreckliches Geheimnis auf dem Sterbebett offenbart. Seitdem kannte das Dorf diese Geschichte. über alles hatte der Pfarrer geschwiegen, auch über die Liebesgeschichte zwischen Maria und dem
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